„Bleib mal locker!“

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Wie sich das anfühlt, wenn Eltern erfahren, dass ihr Kind behindert ist (und Ärzte erschütternde Prognosen mitteilen), das schreibt Mareice von Kaiserinnenreich in ihrem Blog: Ein Satz wie Ohrfeige auf das hoffnungsvolle Elternherz. 

Durchkreuzte Pläne und Erwartungen, die man besser nicht auf die Schultern der Kinder läd, die kenne ich auch. Vorige Woche habe ich das alte Dreirad vom Großen aus dem Keller geholt und vors Haus gestellt, damit es Jemand nimmt, dessen Kind damit auch fahren kann. Das Rutscheauto und das Laufrad sind bei guten Bekannten besser aufgehoben. Die alten Bücher des Großen mit den kleinen Bildern, die wollte ich auch längst mal aus dem Regal räumen. Irgendwie habe ich Hemmungen, das zu tun. Als ob mein Kind weniger sehgeschädigt wäre, wenn die Bücher da noch weiter rumstehen.

Das sind die Erwartungen und Pläne, die durchkreuzt werden. Nur die Ohrfeigen-Sätze, die kenne ich nicht. Es ist eher ein merkwürdiger Schwebezustand, der hoffen und bangen lässt und der sagt: So ist es und so ist es nicht. Und doch gibt es keine verbale Ohrfeige, sondern nur so ist es und so ist es nicht.

Es war anfangs ein Der muss mal zwei, drei Monate Krankengymnastik bekommen und dann ist das gut mit der Motorik.

Es war ein Der hatte ein paar Startschwierigkeiten das wird wieder.

Dann war es ein Bis Ende des Jahres sollte er noch Physiotherapie bekommen, dann ist es genug.

Und leise schleichend war es auch ein mmmmhhhh weil der Schädel und die Schädelnähte und die Hirnwasserkammern und die Feinmotorik und die Grobmotorik etwas anders sind, nur so ganz leicht, also, dass ist jetzt nichts wirklich schlimmes, aber wir sollten mal gucken, es ist am Rand der Norm.

Dann kam noch ein Gehen Sie wegen des Schielens mal zum Augenarzt mit dem Baby und Physiotherapie machen wir besser mal zwei Mal die Woche ab jetzt.

Aber immer wieder dennoch ein Im Ganzen ist es nur die schwere Geburt gewesen und das ist ein pfiffiger Kerl, der hat nur die motorischen Probleme.

Zum ersten Geburtstag war es ein Der hat Grauen Star und zusammen mit der Hypotonie, klären Sie bitte mit dem Kinderarzt ab, ob das ein Syndrom ist.

Seitdem ist es Frühförderung und Klinik, Sehschule und SPZ, Humangenetik und Pflegestufe, Physiotherapie und Kontaktlinsenlabor.

Irgendwann war es auch ein Er ist in seiner Spielentwicklung zurück. Meistens aber ein begründendes Er ist ja sehgeschädigt, daran liegt´s.

Nun ist er bald zwei. Es ist gerade ein Er ist mental leicht retardiert, er ist in seiner Entwicklung auf dem Stand eines 12 Monate alten Kindes.

Es gab keine Ohrfeige, kein Ihr Kind ist behindert.

Ist es eine Art Reinwachsen. In einen behindernden Zustand des Wartens. Häppchenweise wird uns das Menü aufgetischt, irgendwann dann erfahren wir, was wir eigentlich auf dem Teller haben. Ein Name wird das sein. Doch was wir tatsächlich haben, dass wissen wir doch jetzt schon. Ein Glück!

Mareice schreibt, dass trotz der klaren Ansage der Ärzte, ihre Tochter sich völlig ohne ärztlichen Prognose-Plan entwickelt. Nach ihrem eigenen Tempo. „Bleib mal locker, Mama!“.

Ja, genau so ist es. Locker bleiben.

Wie oft drehte sich in meinem Kopf die Gedankenspirale? Die haben gesagt, dass das wird und er nur ein bisschen Gymnastik braucht und ein pfiffiger Kerl ist. Nun sagen sie, er wird wohl sein Leben lang immer mal wieder Physioherapie brauchen und er sei mental retardiert.

Solche Gedanken sind ziemlich unlocker und taugen nichts. Dabei bin ich Frau Taugewas. Locker bleiben, Frau Taugewas.

Mein kleines Kind kann das. Er bleibt fröhlich und entspannt und schert sich nicht um Kurven und Tabellen und Prognosen. Manches klappt nicht, manches klappt zu unserem Erstaunen plötzlich sehr gut.

Ob ich mir manchmal wünsche, ich hätte unmittelbar nach der Geburt eine Ohrfeige bekommen? Ein Satz, der mich vorbereitet oder umstoßt oder mir die Hoffnung nehmen will? Ein Satz, der mir die Aufs und Abs, das Bangen und Hoffen, erspart hätte?

In der Nacht nach der Geburt lag ich alleine in einem Nebenraum im Kreißsaal. Das Kind eine Stadt weiter im Kinderkrankenhaus, der Mann pendelnd zwischen zwei Kindern und mir, ich selber wartend auf eine OP am kommenden Tag. Ich habe „von guten Mächten wunderbar geboren“ gesungen und auf eigenartige Weise ging es mir gut. So mache ich das auch nach knapp zwei Jahren zwischen Krankenhaus, OP und Pendelei. Nach knapp acht Jahren zwischen zu normal um anders zu sein und zu anders um normal zu sein. Und versuche, locker zu bleiben.

2 Gedanken zu “„Bleib mal locker!“

  1. Kerstin 16. Dezember 2015 / 12:44

    Liebe Taugewas!
    Ich habe gestern noch zu einer Freundin gesagt, dass ich froh bin, dass das Kind , was bei mir anders ist, der Erste war. Erst jetzt mit Nummer 2 , der sich schwindelfrei und mit einer grossen Leichtigkeit immer in der Norm bewegt und alle Entwicklungsschritte meistert,;sehe ich, was schon von Anfang an beim Grossen eben eigentlich hätte besorgniserregend sein müssen. War es für mich als Erstmutter eben nicht immer und das hat mir ( und auch ihm) Zeit geschenkt, die leichter war.
    Begonnen hat es bei uns eigentlich erst als er fast 4 war und das Trockenwerden, was den Kot betraf nicht funktionierte. Diese Zeit War Horror. Das Ende vom Lied war ein recht langer Krankenhausaufenthalt wegen Kotstau. Ich habe, dass werfe ich mir ewig vor, fast zu spät reagiert. Weil ich mir damals noch von vielen Leuten habe reinreden lassen, die meinten, dass das schon wird und wir zuviel Druck machen. Das ist die Kehrseite der Medaille, wenn das Kind äußerlich so wenig auffällig ist. Heute entscheide ich bei beiden Kindern aus dem Bauch , fern ab von Diagnosen, Schubladen und Förderbedarf und bin damit bisher ganz gut gefahren. Denn gerade , wenn man Kinder hat, stimmt einfach der Satz: man sieht nur mit dem Herzen gut.
    Das wünsche ich auch dir und deinen Zwei und irgendwie ganz tief in meinem Bauch, weiß ich, dass auch dein Kleiner seinen Weg gehen wird und das dieser aweg, wenn auch manchmal holprig doch vorallem meistens fröhlich und mit Liebe geglättet sein wird.
    LG Kerstin

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  2. Taugewas 19. Dezember 2015 / 10:53

    Liebe Kerstin,
    das hast Du so schön geschrieben :) Ja, ich denke auch, dass gerade mein Kleiner mit seiner Fröhlichkeit und Menschenfreundlichkeit, sofern er sie in seinem Herzen bewahrt, ein glückliches Leben führen wird.
    Ich merke nun nach sechs Jahren Einzelkindmamadasein, wie „anders“ doch mein großer war – ohne, dass mir diese Andersartigkeit auffiel. Zwar war mir schnell klar, dass er anders ist im Vergleich zu anderen Kindern, doch manches offenbart sich mir erst mit dem Kleinen.
    die ganze soziale Komponente (Fremde anlächeln z.B.) ist ganz anders ausgeprägt. Spannend!
    Liebe Grüße!

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