Brief an Susi #2

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Liebe Susi,

weißt Du noch, wie ich damals, als ich Praktikantin in der Behindertenwerkstatt war, wie ich da zu Dir sagte, dass ich mir vorstellen könnte, auch ein behindertes Kind zu haben? Und wie Du da gucktest, so erschrocken, dass man sich sowas ja nicht herbeisehnen darf oder so.

Ich meinte ja nicht, dass ich meinem Kind eine Behinderung wünsche, sondern eher, dass ich mir vorstellen kann, auch Mutter eines solchen Kindes zu sein. Also dass ich diese innerliche Einstellung und Haltung habe, die mir dazu nötig schien. Den Menschen im Vordergrund, nicht seine Beeinträchtigung. Ich dachte da bestimmt an die Mutter aus dem Kindergarten, die ein behindertes Kind adoptiert hat.

Wenn ich jetzt an unser Gespräch denke, dann kommt es mir so merkwürdig vor.. Was dachte ich denn damals, wer ich bin und sein werde? Mutter Theresa? Sah ich mich irgendwie als besonders qualifiziert an? Oder erschien es mir irgendwie ehrenvoll und rühmenswert, diese Aufgabe, also Mutter eines behinderten Kindes zu sein? Wie stellte ich mir das denn vor? Aufopferungsvoll ein Leben lang Krankenpflegerin zu sein und gleichzeitig so emanzipiert und studieren und all das..? Dachte ich denn, es würde mich erheben?

Susi, ich bin echt auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Ja, diese innere Haltung, den Menschen zu sehen und nicht seine Behinderung, ich glaube, die habe ich immer noch. Ich bin nicht die Sorte Mensch, die trauert. Um den Körper, der nicht perfekt ist. Oder den Geist oder die Psyche. Meinen Mitmenschen kann ich ganz gut ohne Vorbehalte entgegentreten, meistens jedenfalls. Aber nun, Susi, nun habe ich gemerkt, dass ich behindert werde. Also dass ich eine Behinderung habe. Keine Panik, ich hatte keinen Unfall und auch keine Diagnose, nein, ich werde behindert. Daran hätte ich nie gedacht früher zu Praktikumszeiten. Da bin ich ja morgens gekommen und abends gegangen. Ich konnte das alles ablegen und kratzte nur an der Oberfläche. Jetzt bin ich ziemlich auf dem Boden angekommen. Ich stelle mir das so vor wie wenn eine Mutter in der Schwangerschaft sich alles rosig ausmalt und dann im Wochenbett feststellt, dass es auch furchtbar anstrengend sein kann.

Nur der Unterschied ist die seltsame Tatsache, dass es sich um das Ausmalen eines Lebens mit Behinderung handelt! Bitte denke nun nicht, ich malte mir das Leben mit Behinderung rosig aus, nein, keinesfalls, aber ich dachte, dass ich einer der Personen bin, die, würde ich in die Situation kommen, das alles recht gut wuppen könnte, nicht hadern mit der Behinderung, nicht klagen über den Mehraufwand, nicht trauern, um einen nicht vorhandenen gesunden Körper..

Ha! Susi!! Shame on me! Furchtbarer Irrtum! Ich dachte das, doch so ist es nicht. Ich vergaß bei allem Selbstbeweihräuchern, dass mein Leben kein 4-Wochen-Praktikum ist. Susi, ich dreh manchmal total durch. Ich jammere und klage. Ich werde behindert. Durch die Behinderung meines Kindes werde ich behindert. Oder durch meinen Kopf? Das weiß ich gar nicht so genau. Ich dachte, ich könnte wie früher mit dem Großen auf dem Radsitz Radtouren machen. Oder das Kind auf dem Laufrad und ich joggend nebenher. Wie mit dem Großen. Du weißt doch, wie gern ich radle oder jogge. Das alles geht nicht. Er reißt sich Kontaktlinse und Brille runter, er läuft so wackelig, wie soll es denn je mit dem Laufrad klappen? Er schreit im Kinderwagen. Er schmeißt die Brille runter. Ich trauere nicht um seine schwachen Beine wie eine Mama, die sich wünscht, ihr Kind würde die gesunden Beine eines gesunden Kindes haben. Nein, ich Egoistin trauere um meine Radtouren, meine Joggingtouren, dass ich so viel Bahn fahren muss, dass ich mich einschränken muss. Es ist jämmerlich und ich schäme mich, aber so ist es.

Der Mehraufwand ist es. Es ist nicht die Behinderung, die finde ich nicht schlimm. Ich liebe dieses Kind, selbst wenn es solche Augen hat und solche Muskeln und so wie es halt ist. Die Behinderung ist es nicht. Es ist der Aufwand. Ich lache mein damaliges Ich aus, wie konnte ich nur so naiv sein! Das wuppen zu können, ach, mit links! So ein Schwachsinn.

Ich bin ziemlich überfordert mit der ganzen Organisation. Allein in diesem Monat werde ich sechs Mal im Krankenhaus bzw. SPZ sein. Ständig vergesse ich diese rosa Überweisungszettel vom Kinderarzt.. Susi, du weißt ja, wie chaotisch ich bin. Dazu noch die Elterngespräche für den Großen, dann die laufenden Therapien, Förderungen, ständig Fieber, Optiker, Arzt.. Dann ist die Brille vom Kleinen verloren gegangen, 400€, dann diese Wartezeiten in der Klinik.. 4 Stunden.. Dann die Frage der Ärztin dort, wo denn die Brille sei.. Ich war kurz vor dem Heulen! Stimmt nicht mal, ich saß da und heulte. Heimlich. Und ging in die Kirche, um Kraft zu finden. Susi, ich bin so unentspannt. Ich will alles richtig machen, das Kind optimal versorgen und fördern, um bloß keine Chance zu verpassen, um seine Entwicklung zum Bestmöglichen zu lenken.. Und dann diese Brille, die nicht da ist! Und diese Blockade in meinem Kopf! Warum will ich denn bloß alles perfekt machen und bin nie genug? Ich akzeptiere die Unvollkommenheit meiner Kinder, ja, wie gesagt, ich hielt mich ja für besonders qualifiziert, behinderte Menschen zu begleiten, und selber kapituliere ich vor meinen eigenen Ansprüchen. .. Absurd!

Das ist die Behinderung, die ich meinte. An die dachte ich damals gar nicht. Aber jetzt.

Weißt Du, der Große hat heute aus Wut etwas kaputt gemacht. Er hat ganz neu so ein Seifenblasen-Puste-Seepferdchen geschenkt bekommen. Als ich sagte, er solle die Seifenblasenflüssigkeit aufwischen, die auf meine Bücher gelaufen war, wurde er wütend. Dann schickte ich ihn aufs Zimmer. Kurz danach kam er mit dem kaputten Seepferdchen raus. Wir haben es geklebt und es funktioniert immer noch. Aber er war so schlimm traurig, dass er es kaputt gemacht hat. Es sieht nun nicht mehr so schön aus und er ist Schuld daran. Das ist unerträglich für ihn. Dass es trotzdem funktioniert tröstet ihn kaum.

Aber weißt Du, was er an seinem Geburtstag gemacht hat? Er kam aus der Schule mit einem Bild von einer Torte, einer großen Katze und vielen kleinen Katzen. Er erklärte mir, dass er (er ist ja eine Katze, immer noch, Du kennst ihn ja) seinen Geburtstag mit den behinderten Katzen feiern möchte. Die eine ist krumm, die andere schief, die eine hat einen Herzfehler, die andere ist sehgeschädigt… Das war so rührend, ich musste fast weinen. Er ist so lieb. Er meinte, er möchte mit allen feiern. Also als Katze auf dem Papier mit allen.

Dieses Kind ist wie ich. Ich bin wie er. Ich sehe mich im Stande, als große und starke Frau mich um kranke oder behinderte Kinder zu kümmern. Wie er als große Katze mit den kleinen, behinderten Kätzchen feiert. Aber wenn ich selber das Ruder aus der Hand verliere, die Brille verloren geht, die Terminorganisation mir über den Kopf wächst, ich emotional werde, verzweifelt bin, überfordert, und dann auch noch die Tatsache, dass das Kleinkind in seiner Sehentwicklung nicht optimal gefördert wird ohne Brille (und dass das linke Auge langsam immer schwächer wird..), dann stehe ich wie mein Sohn vor dem kaputten und doch funktionierenden Seepferdchen und bin untröstlich, weil ich weiß, dass das das Produkt meiner Unfähigkeit ist, dass ich Schuld habe und emotional war, dass ich nicht mein Bestes gegeben habe und dass dieses Seepferdchen nie wieder heile wird, dass die Augen des Kleinkindes niemals so sehen werden, wie sie es in der Theorie mit all der perfekten Kontaktlinsen-Brillen-Versorgung tun könnten. 

Susi, ich bin wie er.

Weißt Du, was ich zu ihm sagte, als er so traurig und wütend auf sich selbst war. So unglücklich. Ich sagte ihm, dass wir alle nicht perfekt sind und zeigte ihm die kaputte Teekanne, die ich immer noch nehme, auch wenn sie vorne abgebrochen ist, weil ich sie so mag. Ich nahm ihn in den Arm, im Radio lief Philipp Dittberner: Es ist okay, dass du halt bist, wie du halt bist. Denn das ist dein Leben; das ist, wie du lebst, warum du liebst und lachst und dich selbst nicht so verstehst.

Susi, ich kann mir immer noch vorstellen, Mutter eines behinderten Kindes zu sein. Bin ich ja auch. Aber selber eine Behinderung zu haben, be-hindert zu werden. Eingeschränkt zu sein. Nicht perfekt zu sein. Das annehmen zu können, so wie ich mein Kind annehme, das ist eine Kunst, die ich noch lernen muss.
Was ich damals also sagte, das mag ich nicht zurücknehmen, aber ich wollte dir trotzdem mal schreiben, dass ich deinen Schrecken von damals nun auch verstehe, weil ich ihn selber vor mit habe angesichts meiner Einschränkung im Kopf.

 

4 Gedanken zu “Brief an Susi #2

  1. Natalie 23. Januar 2016 / 22:49

    Liebe Taugewas,
    Das klingt nach viel; sehr, sehr viel. Sechs Termine im Krankenhaus und SPZ sind erfahrungsgemäß sechs Tage, an denen sonst nicht mehr viel läuft, und ich finde sie auch deswegen super stressig, weil man immer irgendwelche „Urteile“ erwartet und ganz gleich, wie gut man die „Behinderung akzeptiert“ oder auch nicht, egal ist einem das Ganze nun mal gar nicht.

    Ansonsten hätte ich deiner Susi einen fast identischen Brief schreiben können.
    Auch ich konnte mir immer ein Kind mit Behinderung vorstellen . Klar, sonst hätte ich nicht zwei Pflegekinder mit Behinderung bei mir einziehen lassen. Gut, beim ersten wusste ich von der Behinderung nichts, aber so entwicklungsverzögert wie das Kind war, bin ich auch nicht kilometertief aus rosaroten Wolken gestürzt.
    Bei Nummer zwei ist die Behinderung eigentlich deutlich weniger schwerwiegend als prophezeit, aber die Schwierigkeiten sind völlig unerwartet.

    Immer habe ich mir ausgemalt,dass ich mein damals noch fiktives behindertes Kind ganz selbstverständlich überall mit hin nehmen werde, und alle werden es toll finden,wie selbstverständlich ich damit umgehe und was ich sonst so an rosaroten Sozialfantasien hatte.

    Als der Kleine ein Baby war, noch seinen künstlichen Darmausgang hatte und seinen Monitor, war das auch irgendwie so, inzwischen bittet man mich, eher ohne ihn zu kommen,zu laut das Kreischen, zu tief die Zahnabdrücke in der Haut der besuchten Kinder…

    Und die eigenen Unfähigkeiten nicht ertragen können? All’die kleinen Alltagsversagen zu Riesen aufblähen? Jaaaaaaa. Hier. Ich auch.

    Daher DANKE für deine Ehrlichkeit.
    (Und es gibt auch Fahrradsitze für Kinder,die nicht sitzen können – frag‘ mal im SPZ)
    (Und das mit dem Katzenbild ist wirklich rührend.)

    Natalie

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    • Taugewas 23. Januar 2016 / 23:37

      Liebe Natalie,

      ja, genau, ein Termin ist immer ein ganzer Tag.. Bald ist ein Ende in Sicht, es steht noch das MRT aus..
      Ich bin sehr froh, dass es auch anderen Müttern/Eltern so geht. Die Schwierigkeiten sind unerwartet, da hast Du so Recht! Nicht die Behinderung, aber die damit zusammenhängenden Schwierigkeiten. Rosarote Sozialphantasien! Oh ja! Und wie locker man im Geiste doch ist…
      Zahnabdrücke sind auch sowas.. Das Kleinkind beißt auch alles und jeden. Heute morgen erst meinen Daumen blutig gebissen, weil ich zu langsam reagiert habe. Autsch.

      Unser Radsitz ist bereits angepasst für ihn, aber mit Kontaktlinse (und Brille) kaum machbar. Es sei denn ich lasse mir hinten Arme wachsen, die ihn kontrollieren…
      Vielleicht ja bald, wenn er kognitiv weiter ist… Irgendwann..

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  2. Kerstin 25. Januar 2016 / 14:04

    Liebe Taugewas!
    Der Satz:“ Ich könnte mir auch vorstellen mit einem behinderten Kind zu leben!“ ist schnell gesagt, nur meint man damit vermutlich eigentlich, dass man sich vorstellen kann ein behindertes Kind zu haben, zu akzeptieren und zu lieben. Das ganze Drumherum abzuschätzen, ist – Gott sei Dank- gar nicht möglich. Es kostet Ktaft, soviel Kraft sich von seinen eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Vorstellungen zu verabschieden. Erst recht, wenn man eben nicht sagen kann: das mach ich jetzt auf Zeit. Das wird alles ganz anders, wenn er 2, 3 oder eben 4 ist. Du weißt nicht, ob es nicht ein “ für immer“ ist. Und das ist das was eine Bürde ist. Und das darf man dann auch denken, sagen und heraus schreien. Und: du hast nicht nur ein behindertes Kind,nein, zwei. Und sie haben sicherlich so unterschiedliche Bedürfnisse und Anforderungen. …ja was sollst du denn machen? Dich teilen und selbst wenn…wo bleibt dann Frau Taugewas?
    Man kann nicht perfekt sein, aber das weißt du ganz alleine. Aber man will so gerne. Man will immer das Richtige tun, das bestmögliche und dann steht man da, hat einen Berg überwunden…und siehe da…da türmt sich schon das nächste Gebirge. Und man nimmt wieder Anlauf…Kind 1 auf dem Rücken, Kind 2 mosernd an der Hand…in der anderen Hand Brillen, Seifenblasenmaschinen und Ärtzezettel. ..einer fliegt weg….im Augenwinkel die Uni . Und da…ganz hinten steht ein Fahrrad…weite Wege…Stille…Freiheit. Du kommst jedoch nicht hin. Das Fahrrad ist verbarrikadiert, der Schlüssel zum Schloss ist weg. Ob du jemals alle Hindernisse weg geräumt hast. ..kann dir keiner sagen. Und selbst wenn…sie scheinen sich immer neu aufzutürmen.
    Wer würde da nicht zwischendurch heulen und verrückt werden wollen? Ein Übermensch?
    Ich kann dich gut verstehen und du hast Susi trotz allem die Wahrheit gesagt, glaube mir. Nichts von dem war anmaßend oder ein Grund sich zu schämen. Du kannst dir immer noch ein Leben mit behinderten Kind vorstellen, nur eben der Alltag drumherum ist so viel schwerer und endet eben nicht, wenn die Jungs im Bett sind.
    Deine Kinder werden sich niemals eine bessere Mutter wünschen können. Das würde ich unterschreiben, obwohl wir uns nicht kennen und ich nur Bruchstücke aus deinem Leben mitbekomme.
    Und der Reichtum deines Grossen ist so unglaublich gross…das Katzenbild, herrlich. Er ist großartig. Und auch er würde mit den Kätzchen vermutlich an seine Grenzen stossen. Den Vorteil , den er hat: er würde es sofort rausschreien, rebellieren und toben. Und…im Endeffekt würde es ihm damit vermutlich besser gehen wie dir manchmal.
    Alles Gute, Kerstin

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    • Taugewas 28. Januar 2016 / 0:33

      Liebe Kerstin,
      was für ein lebendiges und wahres Bild, das Du mit Deinem Kommentar malst. Ja, Gebirge, das umschreibt es gut, Aber man wird ja Bergsteiger mit der Zeit, nicht wahr ;) ?
      Danke für Deine lieben Worte!
      Es tut gut zu lesen, dass auch andere wissen: Es kostet Kraft!
      Liebe Grüße!!

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