Die Katze hilft

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Bei der Logopädin vom Kleinkind gibt es manchmal Brausepulver zum Mund-und-Zunge-Stimulieren. Das Kleinkind schmatzt dann verzückt und läuft wackelig im Raum herum. Die Brause wird ihm auf einem übergroßen Ohrenstäbchen auf Zunge und Gaumen gedrückt. Dann berührt seine Zunge seinen Gaumen und lernt, wohin sie soll. 

In den Ferien ist das Großkind dabei. Er blickt auf über fünf Jahre Logopädie zurück. Therapiemüde. Gerade hat er Logopädie-Pause, doch nächsten Monat geht es wieder los. Die Lehrer und auch wir bemerken, dass seine Aussprache schwammiger wird. Er ist der schwächste Schüler in Deutsch, wird nach dem Sommer in Klasse drei noch auf dem Niveau der zweiten Klasse sein. Aber Sitzenbleiben gibt es auf der Förderschule nicht. Er bleibt im Klassenverband und dafür bin ich dankbar.

Das Großkind bekommt auch Brause bei der Logopädie. Er schleckt sie von der Hand. Er ist eine Katze. Schleicht im Raum umher. Wird wild und wilder. Und wunderbar. Jetzt ist die Zungenübung vorbei, die Brause oben auf der Fensterbank. Nun turnen wir. Praktischerweise ist die Logopädin auch Physiotherapeutin. Aber keine Katzenzähmerin für meine große Katze. Bin nur ich und manchmal auch nicht.

Nach der Stunde stehen wir im Flur und ziehen Schuhe an. Die Katze ist ein Junge auf zwei Beinen. Fremd hier. Will Brause. „Brrr, her mit der Brause!“ knurrt dieser Katzenjunge zur Logopädin. Die Arme wie Stöcke ganz steif am schmalen Körper gepresst. Die Augen starren geradeaus in Höhe ihres Pullovers. Ein kurzes Erheben in den Ballenstand, dann wippt er nach unten.

Ich übersetze das mal. Er möchte Brause. Den Blick nach oben zur Logopädin gerichtet. „Darf ich noch was von der Brause haben?“. So irgendwie wäre das. Wäre es normal.

Aber der hier bei mir ist anders. Hat die gleichen Brausebedürfnisse wie ein Kind, doch spricht nicht Eure nonverbale und interagierende körperbetonte Sprache.

Ach, wäre es bloß normal, anzukopfen wie eine Katze! „Bbbrrrr“, am besten beim Abendbrot auf der Stuhllehne, ganz sachte mit dem Kopf an der Menschenschulter, „bbbrrrr“, damit ein Stück Salami zu mir hopst.

Hier im Flur des Förderzentrums im Menschenkörper unter Menschen. „Brrr, her mit der Brause!“.

Ich fühle den Druck, mein Katzenkind zu maßregeln. Wie redest Du denn mit Erwachsenen? So bekommst Du schon mal gar nichts! Sind das prüfend-wartende Blicke der anderen Eltern und Therapeuten im Flur? Was sagt die junge Mutter dem Jungen? Hat das überhaupt irgendwer gehört? Er weiß, dass diese Art der Ansprache nicht geht. Dass er das macht, ist die Unfähigkeit, seine Wünsche in eine für die Normalwelt angemessene Sprache zu transkribieren. Ich spüre förmlich seine Hilflosigkeit, die er mit einem Grinsen überspielt. Ich spiel ja nur so. Bin ´ne Katze. Keiner weiß, dass dieses Katzenspiel ihm seit sechs Jahren hilft, überhaupt Bedürfnisse der Außenwelt zu übermitteln. Wenn ich das kritisiere, verschließe ich ihm seinen zum jetzigen Zeitpunkt einzigen Zugang zu unserer Kommunikationsemotionsinteraktion.

Tage später sitzt meine Freundin auf der Couch. Er guckt und schnuppert an ihrer Tasche. Von hinten kommt er angekrochen und reibt seinen Kopf an ihren Rücken, wirft sich auf den Rücken. Eine Katze. Völliges Vertrauen. Wer Katzen hat, der weiß, dass Ankopfen und Auf-den-Rücken-Werfen ein Zeichen für Zuneigung und Vertrauen ist. „Hee, dafür bist Du aber schon zu alt!“ mahnt meine Freundin. Er grinst sein Ich-mach-nur-Scherze-Grinsen, um zu verstecken, woran ich nicht komme.

Katzenjunge. Sei niemals zu alt, um Deine Sprache zu finden. Sei wie Du bist und werde wie Du sein willst.

5 Gedanken zu “Die Katze hilft

    • Frau Taugewas 3. April 2016 / 10:05

      Huch, damit habe ich absolut nicht gerechnet, geht es im Post doch primär um eine Katze im Menschenkörper, freue mich aber über den originellen Award, da sich das Leben mit unseren Tieren hier (nicht nur Katzen ;) wir haben auch zwei Formicarien) tatsächlich freundschaftlich und respektvoll gestaltet.

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  1. Kerstin 14. April 2016 / 13:42

    Liebe Taugewas!
    Ich finde es klasse, dass du sein “ Katzesein“ so gut akzeptiert und tolerierst, obwohl natürlich klar ist, dass die Außenwelt diesem Verhalten oft eher mit Misstrauen begegnet. Es ist einfach so schwierig für Kinder, die die „nnormale“ Form der Kommunikation oft einfach nicht können Wege zu finden, die gehbar sind UND zum Erfolg führen. Meinem Sohn ist es immer noch selten möglich Fremden ( und fremd ist jeder, der nicht bei uns wohnt oder zur ganz engen Familie gehört) in die Augen zu schauen oder in normaler Lautstärke mit ihnen zu sprechen. Und da erwische ich mich oft dabei, dass ich das bedauere, weil er eigentlich ein so einnehmendes Kind sein kann. Und manchmal wäre es schön, wenn er dann Katze wöre, um wenigstens etwas Körperkontakt zuzulassen.
    LG Kerstin

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  2. Frau Taugewas 15. April 2016 / 13:00

    Liebe Kerstin,
    angeregt durch Deinen Kommentar fragte ich meinen Liebsten, wer ein Fremder sei. Seine Antwort prompt: „Jeder, den ich nicht täglich sehe und mit mir hier wohnt.“ Also so ziemlich die selbe Formulierung wie von Dir beschrieben. Ich finde das interessant.
    Ich kenne hier auch einige, die in den nicht vorhandenen Bart nuscheln und ins Leere starren, wenn es eine ungewohnte Situation ist. Manchmal würde ich das selber gerne, wenn ich in der Uni vor einem Haufen „Fremder“ ein Referat o.ä. halten soll.
    So fühlen sich wohl oft all diejenigen, die lieber anders kommunizieren würden…
    Man kann das ja lernen. „Soft Skills“ heißt das dann. Es fühlt sich für Inselmenschen an wie Theaterspielen. Wer will schon immer eine Rolle spielen?
    Ich glaube, Katzesein oder leise und ohne Augenkontakt zu sprechen ist irgendwas dazwischen. Keine komplette aufgesetzte Rolle, die einem der Seminarsleiter von „Soft Skills“ eingebläut hat, aber auch nicht die reale Person. Es ist ein Versuch, zu kommunizieren.

    Wegen Körperkontakt: Kennst Du „Pizza backen“ ? Eine Mutter eines autistischen Kindes hat mir das gezeigt. Das Kind legt sich auf den Bauch. Du bist der Bäcker. Erst knetest Du den Teig, dann rollst Du ihn aus, schmierst Sauce oben rauf, belegst die Pizza nach Kinderwunsch und dann verteilst Du gehobelten Käse (schön kitzelig mit den Fingerspitzen). Mein Sohn mag das sehr. Es ist wie eine Massage, den Druck und die Intensität darf er als Teig selber bestimmen. Und er will immer gaaaanz viel Sauce, weil das so schön streichelt..
    So kommen wir gut zum Körperkontakt. Gerade, wenn er mir sehr angestrengt erscheint, dann knete ich ihn ordentlich durch und am Ende kommt er in den Ofen (hihi.. wir haben eine Gewichtsdecke von 12kg, die lege ich auf ihn drauf, das fördert die Körperwahrnehmung und er wird ruhig.)

    Liebe Grüße!

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  3. Regine Franck 28. August 2016 / 5:36

    Liebe Frau Taugewas

    mein vermutlich neurotypischer Sohn war jahrelang eine Katze – immer, wenn er etwas getan hatte, was über den zulässigen Rahmen hinaus ging, hiess die verbale Erklärung „ich bin eine Katze“ und er mutierte auch körperlich zur Katze …
    Spannend, spannend
    r

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