Kontaktlinsendinge, die es nicht geben darf und trotzdem gibt

blog88

Es ist 20:10 Uhr, wir sind in der Uniklinik. Wir, das sind das Kleinkind und ich. Und eine Ärztin und ein Assistenzarzt. Das Kind auf eine Liege gepresst, ich über ihm. Meine Oberschenkel fixieren seinen Rumpf, mein Gewicht verlagere ich auf meine Fersen, um seinen kleinen Körper nicht zu erdrücken. Ich spanne meine Beinmuskulatur an und spüre noch ein bisschen den Muskelkater vom Schwimmen. Meine Hände drücken seine Schultern zur Liege. Mit zwei Fingern streichel ich seinen Hals. Er fühlt sich nass geschwitzt an. Seine Halsschlagader pulsiert. Ohrenbetäubendes Geschrei hallt durch die leeren Räume der Klinik. Der Assistenzarzt drückt seinen Kopf in Position und hält mit zwei Fingern das rechte Auge auf. Er ist jung. Seine Hände sind fast weiß und ganz faltenfrei. Augenarzthände, keine Waschfrauenhände. Am Ohr des Kleinkindes bilden sich unter der Haut kleine Blutpünktchen vom Drücken. Er drückt fest. Der Kopf bewegt sich keinen Millimeter. So kann die Ärztin im Auge herumdoktorn. Mit einer Pinzette. Sie ist halb über mich gebeugt. Ich sage „schschschsch“ und „ich bin ja da, es ist alles gut“. Es kommt nicht an beim Kind. Ich flüstere es beinahe der Ärztin ins Ohr, so nah ist sie. Sie stimmt mit ein: „schschsch“. Das brüllende Kind reagiert nicht.

Im Mittelalter glaubte man, Neugeborene empfinden keinen Schmerz, weshalb man sie ohne Betäubung operierte. Ob man die Kinder auch so festgehalten hat? Wie erklärte man sich das Geschrei? Schrien sie nicht? Vielleicht hatten sie doch ein Mohnsäckchen im Gesicht zur Sedierung? Warum denke ich jetzt daran? Warum haben sie ihm keine örtliche Betäubung gegeben wie die letzten Male? „Er wird so oder so schreien“ meint die Ärztin. Das Schreien unterscheidet sich tatsächlich nicht. Ich schaue in den offenen Mund des Kindes. Zunge und Zäpfchen vibrieren. Auf den Zähnen ist Belag. Wir sind direkt nach dem Abendessen gefahren. Mein Blick wandert zum rechten Auge. Ich sehe die Linse. Diese blöde Linse. Sie ist im oberen Bindehautsack, verkehrt herum. Wie eine Seepocke an einer Muschel hat sie sich in die Schleimhaut eingegraben. Die rote Schleimhaut bildet einen Wulst um die harte Kunststofflinse. „Sie sitzt nasal“ brummt die Ärztin dem Assistenzarzt zu. Sonst spricht keiner. Nur „schschschschsch“ und ein Geschrei, so laut, dass ich meinen Tinnitus nicht mehr hören kann.

Anfangs spürte ich noch den Widerstand im Kindeskörper, doch der erschlafft langsam unter dem Druck der Erwachsenen. Kurz wird er still, die Hände schlaff. Wird er ohnmächtig? Ich sehe seinen Brustkorb auf und ab beben, die Halsschlagader pulsieren. Er atmet. Er schwitzt. Der Kopf ist rot. Dann pickst die Ärztin mit der Pinzette versehentlich in die Haut im Auge. Ein Schrei schrillt auf. Er ist wieder da. Die Linse ist noch nicht wieder da. Warum nicht? Warum dauert das so lange? Wie lange hat es beim letzten Mal gedauert? Wie lange beim vorletzten Mal? Immerhin hatten wir heute keine Wartezeiten. „Ich muss sie mobilisiert bekommen!“ stellt die Ärztin fest. Sie ist alt und ziemlich dünn. Ihre Hände sehen beinahe so aus wie das Werkzeug auf dem Tisch neben der Liege.„Vielleicht ein bisschen Kochsalzlösung ins Auge?“ schlage ich vor. So haben die anderen Ärzte es die letzten beiden Male gemacht. Das Auge mit kalter Kochsalzlösung überschwemmt. Dann mit der Pinzette herumgerührt. Die Ärztin tropft zwei Tropfen ins Auge. Sie werden von Tränen weggeschwemmt. Was, wenn es nicht klappt?

Als der Assistenzarzt eben Pinzetten holen war, klärte sie mich schon mündlich über eine Narkose auf. Das Kind saß auf meinem Schoß, die Ärztin fragte, warum er nur rechts eine Linse trägt. In wenigen Minuten erläuterte ich in einem Monolog seine Krankengeschichte. Sie riet, ihn rechts auch operieren zu lassen und eine Kunstlinse einzusetzen. Denn „er wird älter und er wird stärker und dann können wir ihn nicht mehr festhalten!“. So pragmatisch kann man das sehen. Abseits von allen Empfehlungen zur Sehentwicklung. Dass sich Hartlinsen verkehrt herum im oberen Bindehautsack eingraben, das ist auch abseits von allen Lehrbuchmeinungen. „Das kann doch gar nicht passieren“ sagen die Ärzte. So unwahrscheinlich wie eine Linse, die im Auge zerbricht. Dem Jungen unter mir passiert das trotzdem. „Wie kann das denn passieren?“ fragte die Kontaktlinsendame im Labor damals. Das weiß keiner. Das Internet weiß auch nichts davon. Google schweigt. Das Kind schreit.

Ich blicke dem Schreienden ins Auge. Die bläulich schimmernde Linse sitzt immer noch nasal und in einen Schleimhautwulst eingebettet. Meine Beine schmerzen. Ich schwitze. Mach, dass es endlich zu ende ist. Die Ärztin bohrt weiter im Auge herum. Wenn sie daneben pikt, wird das Geschrei kurz lauter. Auf dem Tisch neben der Liege liegen sämtliche Pinzetten und Werkzeuge, die der Arzt in der Klinik gefunden hat. Wie ein Kaufmann hatte er sie stolz nebeneinander drapiert. Einzeln verpackt und sterilisiert. Wie eine kritische Kundin hatte die Ärztin sich eine lange, dünne ausgesucht und damit begonnen, ihr Werk durchzuführen. Wie eine Zuschauerin sitze ich auf meinem Kind und feuere an: „schschschschsch“. Wie ein schreiendes Kind liegt das schreiende Kind unter uns. Die Ärztin legt die Pinzette weg. Kapituliert sie? Muss er in den OP? Muss er hier bleiben? Ich habe gar keine frische Wäsche dabei.

Ich schaue auf den Assistenzarzt, der den Kindeskopf unerbittlich fixiert. In seiner Brusttasche des Kittels stecken unheimlich viele Lupen und Lampen. Die Orthoptisten, die regelmäßig das Kleinkind untersuchen, haben immer lustige Lampen und Figuren auf dem Kram in der Kittelbrusttasche. Lustige Sachen, die kleine Kinder in ihre Richtung schauen lassen sollen. Das klappt beim Kleinkind nie. Es klappt nur mit Festhalten. Wie jetzt. Jetzt klappt es auch nur mit Festhalten. Ich blicke zum rechten Auge. Der Kinderkopf ist nass und rot. Die Ärztin hat ein Werkzeug, einen minikleinen Golfschläger. Wie für Barbiepuppen. Damit dreht sie das Augenlid um. Der unerwartete Anblick lässt mich würgen. Die blaue Linse ploppt hervor. Sofort rutscht das Lid wieder in Normalposition und mein Mageninhalt ändert seinen Kurs und fährt wieder zurück. Der Arzt lässt los. Blutpünktchen in der Ohrmuschel. Das Kind ist still und schlaff. „Uh, das sah ja übel aus“ sage ich. „Ja, das sieht immer recht unschön aus“ sagt die Ärztin und wendet sich dem Arzt zu: „Danke, dass Sie mitgeholfen haben“. Ich sage „Danke, dass Sie die Linse entfernt haben“. „Haben Sie ein Döschen dabei?“ fragt sie mich. „Nein, das habe ich vergessen im Stress heute Abend“. Sie sucht ein Kontaktlinsendöschen. „Das nächste Mal denke ich dran“ verspreche ich und wir verabschieden uns. Der Assistenzarzt kann wieder lächeln. Es ist 20:38 Uhr. Im Dunkeln warte ich auf den Bus. Das Kind schläft in der Babytrage. Ich weine nicht, denn alles ist ausgeschwitzt. Es ist ja gut und hoffentlich sechs Monate Pause zum Wundenlecken und Luftholen. Bis zum nächsten Mal.

11 Gedanken zu “Kontaktlinsendinge, die es nicht geben darf und trotzdem gibt

  1. katze1810 17. Oktober 2016 / 22:20

    Oh wow. Liebe Mama Taugewas! Ich habe das Lesen schon kaum ausgehalten, unbekannterweise und aus der Ferne muss ich nun einfach kurz etwas schreiben. Nicht unbedingt, weil mir etwas Schlaues dazu einfällt. Aber mit Mutterherz ausgestattet und darum: es tut mir so leid, solche Situationen sind so unsagbar gruselig. Gute Regenerationszeit für Euch. Viele liebe Grüße!

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  2. duese 17. Oktober 2016 / 23:19

    Oh Gott… Ich konnte es ebenso kaum lesen. 😔
    Macht euch eine schöne „Nicht-Uniklinik“ Zeit und versucht es zu vergessen… 😔
    Liebe Grüße!

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  3. Natalie 18. Oktober 2016 / 0:27

    Oh Mann, der arme Kleine! Und du Arme.
    Nein, etwas Schlaues fällt auch mir nicht dazu ein.
    Es ist so furchrbar sein Kind auszuliefern, egal wie notwendig das ist. Und diese Bilder, die du so deutlich beschreibst, sie brennen sich so ein.
    Mitfühlende Grüße
    Natalie

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  4. Charlotta Stracke 18. Oktober 2016 / 9:44

    Oh mann es tut mir so leid was du und dein Kleiner aushalten müsst! Ich hab das Gefühl neben dir gestanden zu haben… wie furchtbar! Du hast es geschafft, er hat es geschafft- ich hoffe ihr habt laaaange Zeit Ruhe damit!
    Von Herzen alles Liebe Lotta

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  5. Frau Taugewas 18. Oktober 2016 / 20:54

    Ich möchte Euch allen Danke sagen (schreiben) für Eure liebe Anteilnahme!! Das zu lesen, tut gut. Kurz bevor ich den Text online stellte, war ich mir nicht sicher, ob mich nicht auch Kommentare erreichen, wie ich es bloß verantworten könne, mein Kind so zu quälen und ob eine OP ihm diese Qual nicht nehmen könnte. Andererseits ist das genau der Konflikt, den wir selber noch austragen (OP, Verminderung der Sehleistung etc.). Das Kindchen hat sich immerhin schon wieder erholt und sich dafür eine Platzwunde am Kopf zugezogen (aber alles gut versorgt, Kinderarzt hatte noch offen), er ist wirklich hart im Nehmen und ganz ganz stark. Kleiner Kämpfer.

    Liebe Grüße an Euch alle!! :)

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  6. Kerstin 19. Oktober 2016 / 23:46

    Liebe,liebe Frau Taugewas!
    Es tut so verdammt weh, diesen Text zu lesen: ich glaube fast: ich habe kein einziges Mal geatmet.
    Zum Einem , weil du und der kleine Mann mir so leid tun, zum Anderen, weil ich diese Situation so gut kenne.
    Ich weiss, wie es sich anfühlt, wenn man meint, sein Kind zu verraten, es auszuliefern, mit dem eigenen Körper in eine Situation zu zwingen, in der das Kind nur eines will : weg und Todesangst hat.
    Ich kann mir auch vorstellen, wie du dich danach gefühlt hast : durchs Wasser gezogen und wie nach einem Marathon.
    Und…so albern es vielleicht klingt…es tut mir furchtbar leid, dass du danach wieder mit dem Bus fahren musstest. Ich hätte dich sehr gern gefahren, weil ich weiss, dass man danach eigentlich eine Höhle braucht, in die man sich verkriechen kann , um wieder bei sich selbst anzukommen und um das Kind bei sich ankommen zu lassen.
    Ich wünsche dir alles und vorallem das Beste, Kerstin

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    • Frau Taugewas 26. Oktober 2016 / 9:50

      Liebe Kerstin,

      ich möchte Dir für Deine Worte danken! Mitgefühl und Verständnis tut so gut!
      ja, wie nach einem Marathon beschreibt die Erschöpfung ganz gut, wobei ich zumindest nach den Halbmarathons, die ich bislang gelaufen bin, danach sehr glücklich war im Gegensatz zu diesem Tag. Es ist wahr, danach brauch man eine Höhle. Ich habe Tage gebraucht, um mich zu rehabilitieren davon.Das Kind brauchte nur einen tiefen Schlaf. Den konnte es in der Babytrage vor dem Bauch machen und das hat mich auch motiviert, die Busfahrerei positiv zu sehen. In einem Auto wäre es bestimmt wärmer, ruhiger und schneller voran gegangen, doch ob er im Kindersitz so gut geschlafen hätte wie in der Trage, an mich gekuschelt? Wir haben beide keinen Führerschein, daher werde ich nie in die Situation kommen, das auszutesten.

      Liebe Grüße :)

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  7. FräuleinFS 20. Oktober 2016 / 18:42

    Oh man, das liest sich wirklich fies. Ich mag gar nicht wissen, wie du dich in der Situation gefühlt hast.
    Zum Glück konnte die Linse entfernt werden.

    Lg

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