Ausschluss der Wechselbälger

blog95

Ich sitze in dem leeren Sprechzimmer meiner Gynäkologin. Krebsvorsorge, alle sechs Monate. Routine. Die Ärztin kommt ins Zimmer. Wie es denn ginge und was die Kinder machen. Hat sich das eigentlich geklärt mit dieser Stoffwechselkrankheit bei dem Kleinen? Und was war mit dem Großen nochmal? War der nicht Autist? – Was für ein Einstieg ins Gespräch. Ja, so war und ist das und tatsächlich haben wir nach vielen Fehleinschätzungen eine Diagnose seit Sommer. Der Genort nennt sich 14q32.31 und das ganze hat zu tun mit DYNEIN, CYTOPLASMIC 1, HEAVY CHAIN 1; DYNC1H1. Die Ärztin runzelt die Stirn und tippt die Diagnose in ihren Computer. Und fragt, ob es sonst noch irgendwelche neuen Krankheiten bei uns gäbe. Krebs, Diabetes, Herzerkrankungen ? Ich verneine das alles. Jetzt also die Untersuchung.

Sie untersucht jedoch noch nicht mich, sondern spricht über Ungewisses. Man hätte die Behinderung des Kindes ja leider nicht in der Pränataldiagnostik feststellen können (keiner macht Ihnen einen Vorwurf, Frau Doktor), aber bei einem zukünftigen Kinderwunsch müsse man diese Erkrankung berücksichtigen. Wir Eltern sollten uns gründlich humangenetisch testen lassen (haben wir schon ausreichend getan, Frau Doktor), um das Risiko zu kennen. Sollte es doch zu einer Schwangerschaft kommen, könne man diese Erkrankung beim Embryo durch eine Fruchtwasseruntersuchung nachweisen (ich weiß, aber hier ist ja keiner schwanger, Frau Doktor). Bei so einer Erkrankung solle man es jedoch besser nicht drauf ankommen lassen, da man ja frühzeitig so etwas testen lassen könne. – „ich bin mit meinen zwei Kindern gut beschäftigt, ich möchte gar kein weiteres Kind“ – „Jaa, jetzt! Aber Sie sind ja noch jung! Warten Sie erst mal zehn Jahre, vielleicht wollen Sie dann!? Und…. Vielleicht wollen Sie auch mal ein…gesundes Kind!“ – Uh, das saß. Menschen mit Autismus sind offenbar nicht gesund? Von Wollen kann hier sowieso keine Rede sein. Als hätte ich ein behindertes Kind gewollt. Ich weiß nicht. Hole Luft. Und schweige. 

Man könne Eizellen und Spermien im Labor in der Petrischale zusammen bringen. Die befruchteten Eizellen würden auf Krankheiten untersucht werden und eine gesunde könne man in die Gebärmutter bringen. So könne man zumindest einen Gendefekt ausschließen.

Ausschließen. Man könnte so ein Kind, wie ich es daheim habe, ausschließen. Denn: Wer will schon so ein Kind, wenn er es sich auswählen könnte. Wenn diese Zellhaufen in den Petrischalen herumschwimmen, dann spielen wir Ene-Mene-Muh-raus-bist-Du. Weil Du nicht vollkommen bist. Und weg.

Ja, wissen Sie, ich möchte nicht schwanger werden und selbst wenn, so würden alle diese Tests nur mit einem Ziel gemacht werden: Im Falle einer Behinderung würde der Embryo vernichtet werden. Das will ich nicht. Dann lieber kein weiteres Kind.“ –  „Jaa, so sehen Sie das, so sehe ich das auch, aber es gibt ja auch Frauen, die sehen das anders. Das muss man akzeptieren. Für solche Eltern und Fälle gibt es diese Tests und Möglichkeiten.“  Wir gehen ins Untersuchungszimmer.

Früher, im Mittelalter, glaubte man an „Wechselbälger“. Das waren Kinder mit Behinderung oder Missbildungen. Man erklärte sich die Behinderung damit, dass der Teufel das gesunde Neugeborene ausgetauscht habe. Die Seele des behinderten Kindes war vom Teufel besessen, der Körper selbst nur „Fleischmasse“. Sogar Martin Luther, dem das wunderbare Zitat „Wenn Du ein Kind siehst, hast Du Gott auf frischer Tat ertappt“ zugeschrieben wird, hatte für solche Kinder nichts übrig. Er empfahl, wie beinahe alle Geistlichen dieser Zeit, die Tötung von Wechselbälger. Aus seiner Sicht tötet man damit nicht einen Menschen, sondern einen Dämonen. Zurücktauschen konnte man ein solches Kind nicht, trotzdem versuchte man den Teufel im Wechselbalg mit kochendem Wasser, das man über das Kind goss, zu bekämpfen. Im besten Falle kam es erst gar nicht zu einem Vertauschen durch den Teufel, weshalb man zur Abwehr einen Rosenkranz, ein Kreuz oder die Bibel in die Wiege oder auch die Plazenta unter die Wiege legte.

Ein halbes Jahrtausend ist das nun her. Mittlerweile glaubt keiner mehr an den Teufel im Kind. Stattdessen gibt es Behindertenausweise, Förderschulen, Pflegegeld und Hilfsmittel. „Frau Taugewas, nun denken Sie bitte nicht darüber nach, was das kostet, das zahlt die Kasse. Wenn das Pflegebett nötig ist, so beantragen wir es, und wenn es auch 7000€ kosten sollte“ spricht mir der Reha-Mensch im SPZ gut zu. Zweifel nagen. So viel Geld. Und in Aleppo, Burkina Faso oder Griechenland?

Ein halbes Jahrtausend ist es nun her, da verbrannte man Wechselbälger. Nun kauft man also für mehrere Tausend Euro Betten für Kinder mit Behinderung. Wir sind nicht mehr so ekelhaft und sehen Teufelswerk in Missbildungen und geistiger Schwäche. Wir legen keine Rosenkränze zur Sicherheit in die Wiege, sondern das Babyphone. Wir wissen ja längst, dass die Bibel im Bette nicht hilft. Da zücken wir lieber Petrischale und Mikroskop, um die Behinderung abzuwehren. 

5 Gedanken zu “Ausschluss der Wechselbälger

  1. autcry 22. Dezember 2016 / 18:58

    Ich finde die Pränataldiagnostik auch überhaupt nicht gut, weil deswegen so vielen Kindern das Recht verwehrt wird, überhaupt geboren zu werden. Klar wünschen sich alle Eltern ein „gesundes“ Kind, aber auch diejenigen mit Behinderung wollen leben! Und behindert wird man ja nicht unbedingt mal durch die Einschränkungen an sich, sondern vor allem durch den Umgang und die fehlende Akzeptanz der Gesellschaft bezüglich dieser Andersartigkeit, welcher Art auch immer sie sein mag. Von Eltern, die z.B. ein Kind mit Down-Syndrom haben, hört man oft, dass diese für sie sogar eine Bereicherung darstellen. Dass der Großteil solcher Menschen bereits vor der Geburt aussortiert wird, finde ich einfach nur traurig und empörend.

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    • Taugewas 23. Dezember 2016 / 8:36

      Die Pränataldiagnostik kann Segen und Fluch zugleich sein und als werdende Eltern sollte man sich klar machen, aus welchen Gründen man die Untersuchungen durchführen lässt. Manche Untersuchungen (Fruchtwasseruntersuchung beispielsweise) können auch zu einem Abort führen, weshalb ich eine solche nie durchführen lassen würde. Da wir eine Hausgeburt planten und unser großes Kind einen kleinen Herzfehler hat, war es jedoch notwendig mehrere Ultraschalluntersuchungen machen zu lassen, um Organfehlbildungen und Behinderungen auszuschließen. Allerdings nicht mit dem Ziel, ein solches Kind abzutreiben, jedoch um zu wissen, dass in so einem Fall eine Geburt in einer Klinik mit direkter Anbindung zur Säuglingsintensivstation gewährleistet ist. Ich empfand die Pränataldiagnostik (also Nackenfaltenmessung, Organultraschall) daher als Segen, um mich auf eine ruhige Hausgeburt vorbereiten zu können. Die Behinderung unseres Sohnes ist erst im Mai dieses Jahres durch Wissenschaftler erstmals „gefunden“ und publiziert worden und war pränatal nicht erkennbar. Leider. Wir wussten nicht, dass wir ein behindertes Kind erwarten, das sofortige Versorgung durch eine Intensivstation benötigt. Er kam ohne eigene Atmung, blau und hypoton zur Welt, lag lange eingeklemmt im Geburtskanal, die Klinik hatte keine Säuglingsstation, weshalb wir in getrennten Städten lagen. Die Ausprägung seiner Behinderung ist nicht allein durch den Gendefekt zu erklären, sondern auch durch einen Geburtsschaden. Vielleicht entwickelt sich die Pränataldiagnostik eventuell in die Richtung, dass solche Defekte frühzeitig erkannt werden, damit Mutter und Kind optimal versorgt werden und kein Kind mehr fast leblos zur Welt kommen muss und durch Gynäkologen (der RTW zur Kinderklinik kam erst später) beamtet werden muss.
      Pränataldiagnostik kann jedoch auch andere Ziele im Sinn haben, welche mich ebenso wie Du es schreibst, empören und traurig stimmen. Die allgemeine Akzeptanz gegenüber diesen Zwecken empört mich auch.
      Unser Kind ist in der Entwicklung in etwa mit einem Kind mit Down-Syndrom vergleichbar, wobei ja auch dort die Spannbreite sehr unterschiedlich ist. Ja, er IST eine Bereicherung für unser Leben und durch ihn habe ich neu erfahren, was Demut und Dankbarkeit wirklich bedeutet.

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  2. racheles-welt 22. Dezember 2016 / 19:10

    Finde deine Einstellung dazu sehr gut. Pränataldiagnostik kann auch fehlschlagen – habe eine Bekannte, deren laut Pränataldiagnostik schwer behindertes Kind völlig gesund zur Welt kam.
    Liebe Grüße!

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    • Taugewas 23. Dezember 2016 / 8:38

      Das ist ja unglaublich. Wie wunderbar, dass Deine Bekannte das Kind, welches schwer behindert zur Welt kommen sollte, voller Mut ausgetragen hat – und damit bewiesen hat, dass manchmal auch Ärzte irren können! Welch ein Geschenk!

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  3. Natalie 26. Dezember 2016 / 23:06

    Ob deine Ärztin verstehen würde, dass wir uns nicht „ein“ gesundes Kind wünschen , sondern dem einzigartigen Kind, das wir unter dem Herzen tragen, das wir geboren haben, das wir als unser Kind angenommen haben, so viel Gesundheit und Unbeschwertheit wie eben geht wünschen?

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