Liebes großes Kind.

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Liebes großes Kind. Bald bist Du neun Jahre alt. Unglaublich, dass wir seit neun Jahren zusammen leben, kannst Du dir das vorstellen? Ich bin 27 Jahre alt und fühle mich plötzlich alt. Für Dich ist es normal eine Mama zu haben wie ich es bin, Du kennst ja keine Alternative! Wir sitzen zusammen im Bus und fahren zur Logopädie. Du hast die Schulsachen auf dem Schoß und ich den Unikram. Ich hab Dich mit zur Realschule genommen, mit Dir Abi gemacht, nun studiere ich mit Dir. Du bist mein liebster Sitznachbar gewesen in der Schulzeit und auch jetzt im Studium. Ich bin gerne fleißig mit Dir und auch gerne faul und ich glaube, dass es gut ist, dass wir uns das gegenseitig vorleben. „Der Papa schreibt immer die Einsen“ hast Du mal gesagt und, ja, auch wenn ich ab und zu auch gute Noten habe, so bin ich eher gemütlich und das bist Du manchmal auch und so lernen wir uns selbst und gegenseitig leben zu lassen und es nicht ganz so erst zu nehmen mit all den Anforderungen.

Du bist mein liebster Sportfreund. Keinem renne ich so gerne hinterher und in Dir die Radfahrleidenschaft aufleben zu sehen ist so kribbelig und schön und erfüllt mich mit Stolz und Dankbarkeit. Wenn grad kein Kleinkind an mir dranhängt, dann machen wir Wettlauf bist zur nächsten Bushaltestelle, bis zum nächsten roten Auto oder bis zur nächsten Ampel. Du bist flink und schnell und wenn Du rennst, dann fängst Du an zu lachen. Das mag ich an Dir.

Du hast mit uns Äpfel, Brombeeren und Holunderbeeren gepflückt und daraus Mus und Marmelade gekocht, da warst Du gerade drei Jahre alt. Letztens hast Du Köttbullarbällchen geformt, gebraten und nebenher noch Nudeln gekocht. Klar, ich habe dir alles gezeigt und erklärt, aber du warst derjenige am Herd. Du bist so vorsichtig und aufmerksam und Du bist interessiert.

Besonders cool finde ich, dass Du dein Ding durchziehst und darauf pfeifst, was andere meinen. Mit vier, fünf Jahren hattest Du lange Haare und Pink war Deine Lieblingsfarbe. Und Hellokitty, die mochtest Du auch. Und es war dir egal, dass Du damit der einzige Junge im Kindergarten warst. Du hast keine Lust auf Feiern und deshalb feierst Du keine Geburtstagsparty, sondern verabredest Dich einfach zum Spielen. Du hörst auf Deine Bedürfnisse. Deshalb wolltest Du auch mit fünf Jahren nach einer Minute auf der KiTa-Karnevalsfeier wieder mit mir nach hause gehen. Es war dir zu laut und wuselig. Dann haben wir zuhause unsere eigene Feier gemacht. Als Katzen. Denn das sind wir seit Du zwei Jahre alt bist.

Als wir noch zu dritt waren, da fragte ich mich, ob es mir je möglich sei, mich aufzuteilen auf zwei Kinder. Nun sind wir seit knapp drei Jahren zu viert und wir haben alle gelernt, dass es tatsächlich möglich ist, sich zu teilen und trotzdem stabil stehen zu bleiben, vielleicht, weil wir aneinander festhalten. Und trotzdem tust Du mir manchmal leid. Wie viele Sätze, die Du von mir hörst, beginnen mit: „Ich würde ja gern, aber wegen deines Bruders…“ oder „Das geht leider nicht, Du weißt ja, Dein Bruder…“. Du selbst hast ihn lieb wie keinen anderen, Deinen Bruder. Er nimmt unfassbar viel Platz in Deinem Leben ein. Weil er nicht spricht und nicht still hält, sondern Dich überfällt wie ein Sturm, so körperlich und unberechenbar und mit Haareziehen und Brillerunterreißen. Es ist schade, dass er behindert ist, so kann ich gar nicht richtig mit ihm spielen.“ hast Du letztens festgestellt, und direkt hinzugefügt „…aber es ist nicht schlimm!“. Ja, das stimmt. Weißt Du noch damals, wo Dich alle fragten, ob Du denn lieber ein Brüderchen oder ein Schwesterchen hättest und als Du mit „Bruder“ antwortetest, die direkte Reaktion war: „Achja, mit dem kannst Du dann gut Fußball spielen!“. Du hast uns sehr früh gezeigt, dass nicht jeder Junge Fußball mag. Du hast selbst sehr früh gelernt, dass nicht alle Geschwister Spielpartner seien können. Ich glaube, dass Du viel zurückstecken musst als Bruder eines behinderten Kindes.

Und ich bin unglaublich froh, dass Du dich selber trotzdem als etwas einmaliges und besonderes wahrnimmst. „Ich bin ein besonderes Kind“ hast Du mir letztens erklärt und danach festgestellt, dass nicht jeder auf solche besonderen Kinder vorbereitet ist. Zum Beispiel die Lehrerin aus der alten Schule. Bitte sei Dir immer sicher: Du bist so wunderbar toll und besonders und, ja, darauf sind einige nicht vorbereitet, manchmal ich selber nicht, aber das soll Dich nicht daran hindern, weiterhin so besonders und besonders toll zu sein!! Du bist wie Schnee, den gibt es selten, weshalb man auch oft nicht vorbereitet ist, aber dennoch ist es das Problem der anderen, dass sie denken, Schnee sei dazu da, ihn mit Streusalz wegzumachen. Es ist deren Problem, dass sie keinen Schlitten besitzen oder zu einfallslos sind, um Schnee-Kiwis zu bauen. Die anderen haben halt unpassendes Schuhwerk, ihre Mütze zuhause vergessen oder sind zu erwachsen, um Schnee-Engel oder zumindest eine kleine Schneeballschlacht zu machen. Das liegt alles an den anderen. Schnee ist selten in dieser Region, man wird ziemlich überrascht, aber er ist wunderbar und sehr schön anzusehen und ich vergesse auch meine rote Nase und die kalten Füße, wenn so richtig viel Schnee liegt. Du bist wunderbar wie Schnee und erinnere Dich, wie begeistert wir nach draußen gerannt sind in aller Frühe, nur weil Schnee im Vorgarten lag! So kannst Du auch begeistern mit Deiner Besonderheit.

Ich mag es, was Du alles erzählst. Du redest oft so viel, dass Du vergisst, zu essen. Du redest ununterbrochen und sprichst jeden Gedankengang laut aus. Ja, wir Eltern sagen manchmal, dass es zu viel ist und Du nun mal still sein sollst und Dein Essen essen sollst, weil wir eh nicht mehr zuhören können. So sind Erwachsene manchmal. Aber was wäre die Welt ohne die Menschen, die tatsächlich sagen, was sie denken? Du sagst, mein Hintern wirkt in der Bluejeans dicker als in der schwarzen Jeans und das ist einfach nur ehrlich und das finde ich gut. Du sagst „Halssenkel“ zu den Bändern am Kapuzenpulli und das ist ein genialer Neologismus, finde ich. Neologismus ist eine Wortneuschöpfung, weißt Du, und in dieser Disziplin bist Du Weltmeister! Ganz bestimmt. Meintest Du nicht gestern erst, dass das Auto dort drüben „keine Straßenmanieren“ hat? Was für eine tolle Wortschöpfung! Vor zwei Wochen hatte ich einen üblen Morgen und schwafelte genervt irgendetwas von „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“ und wahrscheinlich wollte ich damit erreichen, dass Du mir nicht schon in der Früh die Ohren zuredest.. Und was antwortest Du? Regen ist Silber, Schwein ist Gold!“. Ich lag vor Lachen auf dem Boden! Du kannst mich so herrlich zum Lachen bringen und siehst mit Deinem großen, roten Lachmund in Deinem Elfengesicht dabei auch noch so wunderschön aus.

In Dir ist so viel Liebe. Du bist ein so kuscheliges Kind. Die Art, wie Du Deine Liebe zum Ausdruck bringst, wie Du selbst und mit uns in ganz andere Rollen schlüpfst, sodass wir plötzlich Kalkstein, Seepocke, Tiefseemuräne und Igelfisch sind, diese Art in eine Fantasiewelt zu tauchen und auf diese Weise Gefühle zum Ausdruck zu bringen, das macht so viel Spaß und das macht es auch leichter, einander zu verstehen, nicht wahr?

Liebes großes Kind, bald bist Du tatsächlich neun Jahre alt. Sei doch bitte für immer und ewig so toll! Dafür musst du gar nichts tun außer weiterhin Du zu sein! Du hast uns und der Welt noch viel zu sagen und all die tollen Gedanken in Deinem Kopf und Fragen, die Du jeden Tag hast, die möchte ich noch unbedingt ganz lange hören. Du machst mich als Mama sehr glücklich, einfach nur, weil Du da bist! Wäre ich eine Katze, so würde ich jetzt ein bisschen die Augen zukneifen und mit meinem Kopf an Deinem Körper streifen. Du weißt schon.

5 Gedanken zu “Liebes großes Kind.

  1. Kerstin 19. Januar 2017 / 13:40

    Was für ein toller Text! Ich wünsche deinem Grossen schon einmal alles erdenklich Gute zum Geburtstag und ganz viele Kartons:-) zum Fest.
    Nicht nur in ihm ist sehr viel Liebe…in dir auch.
    LG Kerstin

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  2. Natalie 19. Januar 2017 / 22:39

    Nachdem ich erst ein bisschen gegrinst habe- die Frau Taugewas fühlt sich ALT, haha, was bin ICH dann? — war ich unglaublich gerührt. Jeder deiner Texte über den Großen macht, dass man sich unbekannterweise immer mehr in dieses KInd verliebt. Kennt er diese Texte eigentlich?
    Einen wunderbaren Geburtstag wünscht
    Natalie

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  3. Frau Taugewas 1. Februar 2017 / 16:27

    Lieben Dank Euch!!!!
    Natalie…ich möchte ihm gerne die Texte vorlesen, aber ich glaube, dafür braucht es Ruhe und Höhle.
    Daheim ist wenig Ruhe durch das Zappelkind. Wenn wir Ruhe haben, dann sind wir meist unterwegs, zu zweit, und unterwegs ist weniger Höhle..
    Ich warte auf einen guten Augenblick, sie ihm vorzulesen. In jedem Falle bekommt er irgendwann, wenn er gut schreiben und lesen kann und älter ist, meine Blogadresse. Vielleicht ist das eher eine peinliche Angelegenheit, wenn er in die Pubertät kommt. Vielleicht auch nicht. Es kommt wohl immer auf die Ruhe und Höhligkeit an.. ;-)

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