Mit dem Kopf im Regal und dem Zettel in der Hand

blog99

Ich stehe in der Fachbibliothek vor dem Büro eines Dozenten. Zu seiner Sprechstunde wollen heute eine Menge Studenten, die sich zwischen den büchergefüllten Regalen an Tischen stapeln. „Sprechstunde im Wintersemester: Montags ab 16 Uhr“ steht in Großdruck auf einem Zettel auf der Bürotür. Es ist 16:07 Uhr. Das Kleinkind hängt in der Trage vor mir. Es muss mit, da die Kita um 17 Uhr schließt und der Weg von der Uni zur Kita nimmt etwa eine halbe Stunde in Anspruch. Dieses Mal nahm er länger in Anspruch, da die S-Bahn einen Oberleitungsschaden hatte. Deswegen ist es nun 16:07 Uhr und nicht 15:50 Uhr. Nun also warten. Und still sein, weil es ja eine Bibliothek ist. Das Kind, 14kg schwer und knapp drei Jahre alt, muss in der Trage bleiben. Das liegt an seinen Leidenschaften: Regale ausräumen und Papier zerreißen.

Die Studenten werden nacheinander rein gebeten. Ob ich mit dem Kind denn auch zu ihm wolle. Ja, das will ich. Ich stehe Schlange. Zeit genug, darüber nachzudenken, was ich eigentlich von ihm will.

Ich brauche für einige Dinge länger als andere Studenten, weil ich nicht alle Module wie vorgesehen belegen kann. Im Wintersemester 14/15 zum Beispiel hatte ich ein Modul belegt, das sich über zwei Semester aufeinanderfolgend erstreckt. Zwei Monate nach Beginn des Semesters mussten wir unseren damaligen Erstklässler umschulen, weil die Inklusion auf der Regelschule misslungen war. Die Suche nach einer geeigneten Schule, die Hospitations- und Gesprächstermine, die langsame Neueingewöhnung, die Rückschläge und die wachgelegen Nächte voller Sorgen, die Kindertränen, das alles kostete Kraft und Zeit und ich konnte das Modul nicht ausreichend oft besuchen. Stattdessen telefonierte ich, führte Gespräche und beantragte die Umschulung und begleitete die langsame stundenweise Eingewöhnung in einer Schule am anderen Ende der Stadt. Leider war es ein zweisemestriges Modul und ich konnte auch im folgenden Semester nicht planmäßig das Studium fortführen, da die Wiederholung des Moduls erst im folgenden Wintersemester möglich war. Trotzdem besuchte ich so gut es ging die anderen Seminare. Im Sommersemester 15 startete ich mit gut eingewöhntem Großkind durch, doch dann nistete sich in den Augen des Kleinkindes der Graue Star ein und neben Physiotherapieterminen kamen auch etliche Krankenhausaufenthalte, Operationen und Augenarzttermine hinzu. Wieder studierte ich nur auf Sparflamme und sammelte trotzdem eifrig LPs. Jetzt haben wir Wintersemester 16/17 und ich bin nicht so weit gekommen wie andere Studenten und deswegen stehe ich hier vor der Tür des Professors. Es gibt an der Uni Gleichstellungsbeauftragte und auch ein Büro für Familienangelegenheiten und es gibt auch Regeln und Verordnungen, die besagen, dass Studenten, die durch die Pflege eines Angehörigen Verzögerungen im Studium haben, einen Ausgleich bzw. mehr Zeit in Anspruch nehmen dürfen. Das alles gibt es und dazu gibt es noch Blätter und Formalia und all das habe ich in der einen Hand und dann brauche ich noch eine Unterschrift vom Herrn Professor hinter der Glastür hier in der Bibliothek. Deswegen stehe ich hier.

Der Studentenstapel baut sich nur langsam ab. Manche Studenten sind nur kurz im Büro, andere ziemlich lange. Manche brauchen auch nur eine Unterschrift, andere diskutieren über Referate oder Hausarbeiten. Das Kleinkind hat Langeweile und schwitzt. Es jammert, es hüpft in der Trage, es will mir an Haaren und Ohren ziehen. Ich singe leise ein Lied in sein Ohr. Jetzt hat er den Lichtschalter entdeckt. Klick. Licht aus. Der Flur der Bibliothek ist dunkel. Die Finger des Kindes sind ungeschickt, der weiße Lichtschalter klein und kontrastarm vor der weißen Wand. Das Kind kann ihn nicht umschalten und ist frustriert. Ich schalte ihn, klick, wieder an. Das Kind lacht. 16:27 Uhr. Ich schaukel und wiege, singe und lenke ab. Da spricht mich eine Kommilitonin an. Sie müsse noch zu Dr. Soundso, die Seminararbeit besprechen. „Ach, bei ihm habe ich vor ein paar Wochen auch meine Seminararbeit besprochen, er nahm sich eine Stunde Zeit!“ sage ich und werde dabei vom Kleinkind in den Arm gebissen. „Oh wei, ich hab gar keine Zeit und Lust, eine Stunde die Arbeit zu besprechen, vielleicht wird’s bei mir ja kürzer“ antwortet sie und stellt erschrocken fest „Der beißt dich aber feste in den Arm!“. „Ja, stimmt…. Tja, Langeweile halt. Und behindert.“ „Oh, das sagtest Du ja mal, dass Du echt zwei Sechser in der Geburtslotterie gezogen hast… Kannst Du nicht schneller drankommen? Den Behindertes-Kind-Bonus oder so…?“„Jaaa…. Ach… Dazu müsste ich das Selbstbewusstsein haben, weißt Du.. „Lassen Sie mich durch, ich habe ein behindertes Kind hier!“…so bin ich ja nicht…“. Wir reden noch ein bisschen und dann geht sie zum Dr. Soundso.

Das Kind quäkt. Ich schwitze. Der Studentenstapel schrumpft langsam. Das Kind wirft sich mit dem Kopf nach hinten und zappelt wild mit den Armen. Ich puste es an. Jetzt pustet er zurück. Er kann seit Kurzem richtig toll pusten. Ich zeige ihm eine Lücke im Regal. „Da stehen gar keine Bücher drin, na sowas!“. Jetzt will das Kind seinen Kopf in die Regallücke stecken. Ich hocke mich vors Regal, Kind in der Trage, Kopf im Regal. „Klopf, Klopf, ist Jemand zuhause?“ frage ich leise. Hoffentlich gucken die anderen Studenten in ihre Bücher und sehen nicht die alberne Frau mit dem Kind im Regal. Jetzt wedelt das Kind mit den Armen und Bücher fallen zur Seite. Ich schiebe sie zurück und verrenke mich ziemlich, weil der Kindskopf noch im Regalzuhause steckt. Alles besser als lautes Gequäke in einer Unibibliothek. Besser ein bisschen Ablenkung und Hampelmannspielen als Lärmbelästigung. „Hallo, Frau Taugewas!“ höre ich eine Stimme hinter mir. Eine Dozentin grüßt mich. Ich klettere mit Kind aus dem Regal und richte mich auf. Es ist 16:53 Uhr. „Hallo“ sage ich. „Du bist ja groß geworden, Dich habe ich ja das letzte Mal gesehen als Du bei mir durchs Seminar gekrabbelt bist! – Hallo!“ sagt die Dozentin. Das Kind sagt nichts und guckt starr in die Luft. Ich erkläre, dass er nicht spricht und sie erklärt, dass sie noch eine Änderung für ihre Dissertation beantragt hat und auf Bewilligung wartet und danach unter verbesserten Bedingungen forschen kann. Die Altersspanne der Kinder mit Autismus, die sie als Probanden sucht, wird sich dann vergrößert haben und somit die Suche nach Probanden vereinfachen. Wie alt denn mein älterer Sohn nun sei. „Neun“ sage ich. „Mhmh“. Wir sehen uns ja im Blockseminar in drei Wochen, bis dahin! 16:57 Uhr.

Wir spielen noch ein bisschen Licht-aus-Licht-an und Kopf-ins-Regal-Stecken. Ab und an geht die Bürotür auf und der Professor ruft den nächsten rein. Ich höre einen Studenten sich bedanken für „die konstruktive Kritik“ und bin froh, nur eine Unterschrift zu wollen. Wie trage ich denn kurz und knapp mein Anliegen vor? „Hallo Herr Professor, ich habe eine Verzögerung im Studium und gemäß Paragraph Soundso liegt folgendes vor, es ist nämlich so, ich bin wirklich eifrig dabei mein Studium fortzuführen, doch bedingt durch meine zwei Kinder mit Behinderung kommen mir eine Reihe an Dingen dazwischen, die zu Verzögerungen führen. Statt in einem Seminar zu sitzen oder in der Bibliothek zu lernen, fahre ich in die Augenklinik, ins Kontaktlinsenlabor, ins SPZ, zur Logopädie, beantrage Hilfsmittel bei der Pflegekasse, mache mir stundenlang Gedanken, welches Pflegebett am besten geeignet ist, ob eine OP am rechten Auge des Kleinkindes sinnvoll ist oder nicht, weil mir das auch kein Arzt sagen kann, ich nehme Beratungsgespräche wahr, telefoniere mit der Pflegekasse, werde Schulpflegschaftsvorsitzende und bin nach den Förderplangesprächen auch auf der Schulkonferenz, ich wische Erbrochenes weg und weil mein Kleinkind nicht erwacht, wenn es im Schlaf erbricht, schlafe ich des Nachts besorgt und unruhig neben ihm, wenn er krank ist, aber auch wenn er nicht krank ist, denn durchschlafen tut er nur in 10% der Nächte, es braucht zwei Mann um dem Kind die Fingernägel zu schneiden und hellseherische Fähigkeiten, um aus seinen Augen zu lesen, ob er Durst hat oder weshalb er so jammert, statt in der Uni zu sein, sitze ich in Wartezimmern oder führe Therapeutengespräche, hänge in der Telefonwarteschleife der Uniklinik oder wasche Unmengen an Wäsche, ich erkläre meinem Sohn jeden Tag aufs Neue, dass er Brille, Unterwäsche und Schal anziehen soll und seine leicht blutig-aufgerissene, trockene Haut versuche ich mit Creme zu behandeln, doch wenn ich das wirklich erfolgreich täglich tun würde, dann hätte ich wahrscheinlich tatsächlich keine Zeit mehr zum Studieren, denn für einen autistischen Neurodermitiker mit taktiler Wahrnehmungsstörung ist Creme wie Säure auf der Haut. Ich sitze oft in der Uni und lernen tu ich auch, manchmal abends, aber manchmal auch nicht, weil ich noch ein bisschen Wäsche wasche oder die Spülmaschine repariere oder meinem Opa Briefe schreibe über Van Gogh und seinen Briefverkehr mit seinem Bruder Theo, den er so gern gehabt hat, dass er sich in seinem Leid auch noch das eine Ohr abgeschnitten hat, ach je, so lese ich dann seine Briefe und schreibe meinem Opa über diesen genialen Künstler und seine schriftsprachlichen Ausführungen über sein Leid, aber auch seine Träume, dann telefonieren wir, mein Opa und ich, und er sagt mir, dass sein Freund in der Gefangenschaft damals im Krieg und er, dass sie auch so schwärmten von Vincent Van Gogh und wie schön es doch ist, dass ich das ebenso tu und dass die Pfirsichbäume, die er 1887 gemalt hat, doch so wunderschön sind. Meistens liegt es also an den Kinderthemen, dass ich statt zu lernen etwas anderes mache, ganz manchmal liege ich abends halbtot auf der Couch und ganz selten manchmal lese ich die alten Briefe vom Vincent, so ist das Herr Professor, deshalb brauche ich Ihre Unterschrift hier.

Es ist 17:16 Uhr, der Professor ruft mich ein. Was ich denn wolle, fragt er. Ich zeige ihm den Zettel in meiner Hand. „Ach nur wegen dieser Unterschrift! Und dann warten Sie so lange?“ – „Achja, naja, war ja nicht so schlimm. Ich hab auch die Behindertenausweise meiner Kinder dabei, wenn Sie die sehen wollen.“ höre ich mich sagen. „Nee, nee. Ich glaube Ihnen das, ich unterschreibe hier und dann sollten Sie keine Probleme haben.“. Um 17:18 Uhr stehe ich wieder vor seiner Bürotür. Der Studentenstapel ist weg. Während ich meine Tasche aus dem Spind hole und das Kleinkind davon abhalte, an meinen Ohren zu ziehen, spricht mich ein junger Student an: „Also, für eine Unterschrift, da hätten Sie doch nicht so lange warten müssen. Da hätte man Sie doch vorgelassen.“ – ich gucke ihn an und fühle mich alt, weil er mich siezt. Letztens beim Arzt fragte man mich noch, ob ich eine Krankschreibung für die Schule brauche, da fühlte ich mich ziemlich jung. „Ach“ sage ich, „das ging schon..“ – „fürs nächste Mal dann wissen Sie Bescheid“ meint er. Ja stimmt, danke!“

Draußen ist es schon dämmrig, ich kaufe dem Hampelhaareziehkind ein Brötchen beim Bäcker und freue mich, dass der Prof und der Kommilitone so nett waren. Hoffentlich gibt es trotzdem kein nächstes Mal, denn für „Lassen Sie mich durch, ich habe ein behindertes Kind!“ bin ich einfach nicht gemacht. Dafür kann ich mit einem Kind vor dem Bauch halb im Regal hängen und halb ein Gespräch führen.

4 Gedanken zu “Mit dem Kopf im Regal und dem Zettel in der Hand

  1. Natalie 1. Februar 2017 / 22:55

    Ach herrje, mir bricht schon beim Lesen der Schweiß aus. Hut ab, dass du überhaupt noch studierst! Du bist ja so schon mehr als Vollzeit beschäftigt. Ich fühle mich manchmal schon mit meinem Minijob überfordert, vom freiberuflichen Schreiben mal ganz abgesehen.
    Und du bist eindeutig die erfolgreichere Kleibkindbespaßerin. Uns lassen sie oft vor — einfach damit sie die „Lärmbelästigung“ nicht mehr ertragen müssen. Gerade hat mir die Kieferorthopädin des Mittelkindes angeboten, mich nach den Terminen telefonisch zu informieren. „Dann kann das große Mädchen doch allein kommen und sie müssen mir dem Kleinen nicht …“

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    • Frau Taugewas 8. Februar 2017 / 0:41

      Ich glaube, wenn ich nicht ein bisschen die Abwechslung durch die Uni hätte, dann würde ich zu einseitig leben. Es tut gut, neben vollen Windeln und Ärzten auch noch normale Bücher und den Hörsaal zu sehen :) Manchmal hoffe ich heimlich darauf, dass uns Jemand wegen Lärmbelästigung vorlässt, aber dazu machen wir offenbar tatsächlich viel zu selten genug Lärm. ;)
      Wie toll, dass Dein großes Mädchen ihre Termine schon so selbstständig wahrnehmen kann !

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  2. Saskia 2. Februar 2017 / 0:22

    Puh. Ich kann verstehen, dass „hey da, lasst mich vor ich habe ein behindertes Kind“ nicht dein Ding ist. Aber das ist gar nicht der Punkt finde ich. Ob mit oder ohne Behinderung – langes Schlangestehen mit Kleinkind ist per se kein Entspannungsprogramm. Und dann auch noch in der Bibliothek! Da könnte der eine oder die andere in der Schlange ja vielleicht auch ohne unmittelbare eigene Kindererfahrung von alleine auf die Idee kommen, dich (oder besser gesagt euch) mal eben vorzulassen. Studium mit zwei Kindern und all dem „Zusatzprogramm“…alle Achtung! Gut zu lesen, dass das zumindest berücksichtigt wird in den Studienordnungen.
    Viele Grüße Saskia

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    • Frau Taugewas 8. Februar 2017 / 0:46

      Tatsächlich ist es unfassbar, wie geduldig die Studenten, die teilweise in ihre Bücher und Arbeiten vertieft waren, um die Wartezeit zu überbrücken, das Gehampel und auch die „Laute“ ignorieren konnten. Ich kann bei solchen Nebengeräuschen nicht gut arbeiten, aber ich denke, die Mehrheit der Studenten „von heute“ hat Ohrstöpsel mit Musik in den Ohren und bekommt das nicht mit. Ich frage mich, wie ich früher, kinderlos, gehandelt hätte… Wahrscheinlich kommt es tatsächlich auf den Lärmpegel drauf an und wir waren einfach zu leise ;)
      Viele Grüße :)

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