Die Pfannkuchentat.

Pfannkuchenkunst

Kleiner Tischknigge

Hau die Gabel auf den kleinen Tisch. Auf den Therapietisch, der vorne an den Therapiestuhl geschraubt ist. Hau und hau und hau darauf. Alles, was zu nahe an dir und dem Stuhl steht, alle Teller, Töpfe, Schüsseln, alles reiße an dich. Strecke die Arme weit über den kleinen Therapietisch, bis auf den großen Essenstisch. Und dann recke und strecke dich, nimmermüde nach allem, was da steht. Und wenn du es nicht greifen kannst, sondern nur mit den Spitzen deines Mittelfingers und Zeigefingers und Ringfingers berührst, so reicht es doch aus, es vom Tisch zu fegen, dass es krachend zu Boden fliegt. So viel Einsatz solltest du schon zeigen. Wenn sie die Hände halten zum Tischspruch, dann schreie laut und halte mit aller Kraft deine Hände bei dir. Stell dir am besten vor, die anderen seien verseucht. Sie dürfen deine Hände nicht berühren. Und wer es wagt, dich dennoch am Ellbogen anzufassen, quasi als Kompromiss für diese unsägliche Tischspruchsituation, so wehre dich mit aller Kraft.

Du sollst niemals zu essen beginnen, wenn es die anderen tun. Das ist nicht sittlich. Iss alles vorher, das du mit gestrecktem Arm vorher zu greifen bekommst. Ansonsten warte, bis die anderen schon zum zweiten Mal nach nehmen. Oder ganz bis zum Schluss, wenn sie deinen Teller abräumen wollen. Sei laut. Bleib immer in Bewegung. Es gibt immer eine Möglichkeit, es anders zu tun als erwartet. Nudeln, Gemüse, Obst und Brot quetsche stets in den Spalt zwischen Holztisch und dem lachhaften Edelstahlrand, der das Herunterfallen von Gegenständen verhindern soll. Wirf niemals zu gewöhnlich. Wirf wie ein Könner. Wirf gezielt auf den Teller der anderen. Und zwar nur angebissene und durchsabberte Lebensmittel. Oder Besteck. Oder Geschirr. Wirf, wenn keiner guckt. Oder lasse erst ganz unauffällig die Gabel mit aufgespießtem Lebensmittel locker herabhängen. Nur so aus Spaß. Warte, bis jeder gemahnt hat: „In den Mund!“. Bleib ganz ruhig und unauffällig. So lange, bis sie sich ihrem eigenen Essen zuwenden. Dann ganz locker die Gabel aus der Hand gleiten lassen. „Oh“. Volle Absicht. Mach es immer und immer wieder. Der Witz besteht nicht in der Sache selbst, sondern in ihrer Quantität. Wenn gar nichts mehr hilft, keiner mehr Gabel und Löffel aufhebt, dann schmeiße den Teller samt Inhalt runter. Alles, was doch noch auf dem Tisch liegt, schmiere sorgfältig ins Holz. Auf die Kleidung. In die Haare. Es ist auch stets einen Versuch wert, Nahrungsmittel in den Ausschnitt des Shirts hineingleiten zu lassen. Oder in die vordere Tasche der Latzhose. Wenn sie dir einen Rollkragenpulli angezogen haben, so schiebe Besteck hinten zwischen Stuhllehne und Rücken. Das geht immer und erfordert oft genug eine größere Suchaktion. Wenn sie das Besteck zu schnell finden oder dir wegnehmen, ist schreien immer eine Option. Sie haben Hunger und wollen essen, deswegen werden sie dir früher oder später das Geschirr wiedergeben müssen. Wenn sie das tun, schreie trotzdem ein bisschen weiter, damit es nicht zu stark nach eindeutigem Zusammenhang erscheint.

Verlange immer, wirklich immer, nach dem Essen der anderen. Isst einer eine Paprika, so strecke deinen Arm danach aus, schreie und strampel herum. Der Witz dabei ist, auf Nachfrage keinesfalls mit Ja oder Nein zu antworten, sondern stur weiter zu hampeln und zu schreien. Verfahre so in allen Situationen. Gebe dich nie mit einer Paprika zufrieden. Sobald ein anderer Salat isst, sich ein Brot schmiert, Käse schneidet, ein Getränk einschenkt oder das Salz nutzt, hampel und schreie und strecke dich danach. Bleibe stets nonverbal. Bleibe stets unzufrieden. Iss nichts von dem, was dir angeboten wird. Es geht nicht ums Haben, sondern um den Akt des Wollens. Bei Argumenten wie „Iss erst mal das, was Du hast, dann bekommst Du das nächste!“ ist völlige Ignoranz, stärkeres Schreien und Hampeln und auch mal das Werfen von Geschirr eine angemessene Reaktion.

Sei niemals mit dem Erstbesten zufrieden. Bekommst Du etwas zu trinken, verlange einen Strohhalm. Sprich nicht, gebärde nicht, sondern schreie und zeige diffus in Richtung Schrank. Die anderen müssen stets die Möglichkeit haben, dein Verhalten fehl zu interpretieren. Alles andere wäre langweilig. Bekommst du einen Strohhalm, so puste, statt zu saugen. Am lustigsten ist das mit Himbeermilch. Hartplastikhalme knicke kaputt, die aus weichem Plastik beiße kaputt. Stecke am besten beide Hände gleichzeitig in den Becher und genieße das Gefühl, wenn die Flüssigkeit mit einer Welle über den Rand schwappt. Verlange immer nach „mehr“, auch wenn der Becher voll ist und du gar nichts trinken willst. „Mehr“ ist universal und ohne tiefgreifende Semantik. Eigentlich gilt das für alles. Hindere deinen Geist daran, die Dinge auf ihren menschengemachten, gebundenen, einfältigen Zweck zu reduzieren. Das ist primitiv. Drehe stets das Besteck um und iss mit der Endseite. Tunke Lebensmittel in Saft. Drehe den Teller mit Inhalt um und schiebe ihn auf dem Tisch hin und her. Bei Melamin macht es besonders schöne Geräusche. Creme die Hände mit Sauce ein. Trinke einen Schluck, lasse ihn jedoch im Mund und spucke langsam auf dem Boden aus. Sollte das durch andere verhindert werden, so spucke auf deinen Teller. Dann kannst du es immerhin noch verreiben.

Wenn der Stuhl Gurtbänder, einen Bezug oder andere locker sitzende Elemente hat, wenn ein Geschirrtuch oder ein Lätzchen in greifbarer Nähe hängt, vielleicht sogar an dir dran, wenn deine Kleidung locker sitzt, so nutze jede Gelegenheit, diese Gegenstände in den Essensprozess mit einzubinden. Gurtbänder nur mit vollem Mund anlutschen. Pullis und Shirts erst über den Kopf ziehen, wenn du schon genügend Lebensmittel auf Körper und Kleidung verteilt hast. Bezüge sind dazu da, entfernt zu werden. Falls das nicht möglich ist, so versuche, klebrige Speisen drunter zu schmieren. Versuche, dir die Socken auszuziehen.

Nutze jede Gelegenheit, anderen mit Abwehr zu begegnen. Kommt einer mit einem Waschlappen, so reiße ihm ihn aus den Händen. Alternativ drehst du dich zur Seite, schreist und ziehst dir selber an den Haaren. Schreie, sobald das Haareziehen schmerzt. Wenn gar nichts klappt, so beiße in den Lappen. Wenn sie dir erlauben, den Lappen selber zu nutzen, so wirf ihn in noch gefüllte Töpfe, auf Teller von Menschen, die noch dabei sind zu essen, oder direkt ins Gesicht der Person, die den Lappen gebracht hat.

Bleib immer in Bewegung. Arme und Hände sind dazu da, flüssige Speisen durch wedelnde und kreisende Handbewegungen auf Sitznachbarn zu verteilen. Verpasse nie die Situation, wenn Personen neben dir vom Tisch aufstehen. In solchen Momenten vergessen einige den Sicherheitsabstand. Dann reagiere schnell und greife mit nassklebrigen Händen an Ärmel oder Hose. Bleibe stets aufmerksam. Manchmal legen Sitznachbarn Besteck oder Lebensmittel in Greifnähe hin. Schnappe dir zunächst alles und verfahre wie folgt: Messer werden herumgewedelt, Lebensmittel anderer Leute gegessen oder geworfen, Teller näher an dich herangezogen, Tassen umgekippt. Ruckel so stark im Therapiestuhl, dass er sich trotz angezogener Bremsen bewegt. Stoße dich mit den Füßen vom großen Esstisch ab. Versuche, den Therapietisch aus der Vorrichtung zu heben. Schmiere ihn in jedem Fall auch von unten mit Lebensmitteln ein.

Wenn Du tatsächlich essen solltest, so halte dich an folgende Regeln: trockene Lebensmittel mit der Hand in den Mund stopfen, gerne wieder ausspucken und danach mit dem Mund vom Tisch oder Teller auflecken. Breiige Lebensmittel mit dem Löffel in den Mund befördern, und zwar den Kopf in den Nacken gelegt und den Löffel von oben heranführen, im letzten Moment den Löffel umdrehen und den Moment genießen, in dem alle anderen dich angestrengt dabei beobachten, ob die Speise im Mund landet. Falls sie dort landet, kann sie in Teilen wieder ausgespuckt werden. Kleine Lebensmittel, von denen eine große Menge vorhanden ist, beispielsweise Maiskörner, Weintrauben, Kirschtomaten oder Nudeln müssen von einem Gefäß in ein anderes geschüttet werden. Zur Not taugt auch Teller und Becher. Sofern nur ein einziger Teller vorhanden ist, ist das diffuse Zeigen auf den Schrank mit lang anhaltendem Geschrei immer eine Möglichkeit, schnell an weiteres Geschirr zu gelangen. Wenn sie dich füttern wollen, so verneine stets. Dennoch möchtest du gefüttert werden, doch erst im fünften Anlauf und mit Der-Löffel-ist-ein-Flugzeug-Showeinlage. Zwischen dem ersten Fragen und dem tatsächlichen Füttern arbeitest du am besten gleichzeitig alle vorher genannte Anweisungen ab. Obligatorisch ist das Verweigern des Tischspruches, das Schmieren von Essen, das ständige Schreien oder zumindest stets Geräusche von sich zu geben, das Hampeln, das Anfassen anderer Personen und das Herunterfallenlassen von Gegenständen. Das Ausspucken von Lebensmitteln, sowie das Ausziehen von Kleidung muss nicht, aber kann angewandt werden. Unterstützend kann ein leicht aggressives Verhalten die eigene Stimmung aufheitern. Die Innenseite des Handgelenks eignet sich hervorragend, um Obst oder Nudeln zu zermatschen. Zähne knirschen und mit der Faust auf den Teller oder in Richtung Sitznachbar zu hauen, sollte zur grundsätzlichen Essensroutine gehören. Auch der Ellbogen kann immer wieder auf Lebensmittel gehauen werden, um diese zu zermatschen.

Ich wünsche viel Erfolg bei der Anwendung dieser Tischsitten.

Pfannkuchenbäcker

Aus dem Augenwinkel sehe ich ihn wieder mit dem Ellbogen die letzten Reste des Pfannkuchens bearbeiten. Immer und immer wieder haut er den Pfannkuchen mit dem Ellbogen, als ob er noch tiefer in den Tisch massiert werden könnte. An seiner Haut kleben Marmeladenreste. Patsch. Patsch. Das Geräusch ist eklig. Gegenüber sitzt ein großes Kind und isst normal. Denn klebrige Marmelade an den Händen wäre für dieses Kind ein Grund motzend aufzustehen und sich gründlich die Hände zu waschen. Nicht so das Kleinkind. Patsch. Patsch. Patsch. Der Pfannkuchen auf meinem Teller will gegessen werden. Er schmeckt mir nicht. Was zum Teufel soll dieses ständige Ellbogengehaue? Muss denn jedes Esse vorher noch durch die Ellbogentechnik bearbeitet werden? „Auf seinem Planeten muss das Essen wohl vorher noch getötet werden“ kommentierte mal mein Lieblingsmensch. Der ist jedoch gerade nicht da. Dafür zwei kleine Pfannkuchenesser und ich. Patsch. Patsch. Wieso tut er das? Es nervt. Ich beiße von meinem Pfannkuchen ab. Patsch. Patsch. Sorgfältig wischt das Großkind das Messer mit der Schokocreme am Rand seines Pfannkuchens ab. Patsch. Patsch. Kleine Pfannkuchenfetzen hängen am Marmeladenarm. Patsch. Patsch. Ich kaue. Und ich sehe mich meinen Ärmel hochkrempeln. Dann beuge ich mich zu seinem Tisch und haue zwei, drei, vier Mal, Patsch, Patsch, Patsch, meinen Ellbogen auf den Pfannkuchen. Ganz kurz ist Stille.

Manchmal nimmt man ja an, man sei die einzige normale Person, umgeben von Verrückten. Dass mit den anderen doch etwas nicht stimmt und man selber die einzige ist, die das merkt und darunter leidet. Oder lacht. Oder beides. Diese verklärte Sicht, man sei doch echt noch die einzige, die noch normal tickt, während alle anderen komplett bescheuert sind. Welch eine fatale Fehleinschätzung! Bei solchen Gedankengängen ist stark anzunehmen, dass man selbst der größte Spinner ist. In meinem Fall die Spinnerin. Ja, bestimmt werde ich verrückt. Weil ich unter Verrückten bin. Oder unter  normalen. Warum habe ich das getan? Mein Ellbogen tut weh und riecht nach Aprikosenmarmelade. Von der Seite blickt mich ein verwundertes Großkind an. Ich muss jetzt erklären, was das für eine Aktion war. Und ich denke an die Liedzeile von Rammstein aus „Du riechst so gut“, das veröffentlicht wurde, als ich gerade mal fünf Jahre alt war: Der Wahnsinn ist nur eine schmale Brücke. Die Ufer sind Vernunft und Trieb. Mit einem Fuß bin ich von der Vernunft auf diese Brücke der Wahnsinigkeit gestiegen.

Und ich sage:  „Ich wollte auch mal wissen, wie das ist, wenn man so mit dem Ellbogen hämmert. Vielleicht ist das ja ganz toll und deswegen macht er es immer. Das wollte ich testen. Aber es ist nicht toll. Es tut weh und ist eklig.“ Ich gucke zum Großkind. Er muss ein bisschen lachen. Das Kleinkind ist jetzt erst richtig angefixt und hämmert noch viel stärker mit dem Ellbogen auf den Pfannkuchenrest. Also umgekehrte Psychologie funktioniert bei diesem Kind wohl nicht. „Warum tut er das immer?“ frage ich in den Raum. Frage ich das Großkind. Ein bisschen verrückt fühle ich mich schon. Mit dem Ellbogen auf den Pfannkuchen zu hauen ist zwar eklig, aber es hilft beim Aggressionsabbau. Eine Verzweiflungstat. Trotzdem blöd. „Warum?“ frage ich. Vielleicht frage ich eigentlich mich selbst, warum ich die Ellbogenaktion gemacht habe.

Dann kommt eine zarte Stimme von einem Menschen, der die richtigen Worte findet, der mich zurück an das Ufer der Vernunft schubst: „Mama, es gibt keine Antwort darauf. Wir werden es nie wissen, warum das so ist. Es ist so wie mit der Frage „Wo wohnt Gott?“, wir wissen das nicht! Wir wissen nicht, warum er das macht. Aber, Mama, schau doch mal. Schau, wie glücklich er ist. Er ist glücklich, wie er da seinen Pfannkuchen matscht. Und das ist doch das wichtigste, oder?“ Danke, Großkind. Fürs Schubsen. Für Deine Worte, die Du findest, wenn ich nur noch Ellbogen habe. Dass Du nicht nach Antworten suchst, sondern nach Glücklichsein. Für Deinen liebenden Blick auf uns. Du tust so gut.

4 Gedanken zu “Die Pfannkuchentat.

  1. socopuk 9. März 2018 / 17:18

    Oh, was für ein toller Text, ich musste oft lachen und kann doch nur ahnen wie anstrengend das alles sein muss… und um wieviel schöner die kleinen großen Glücksmomente dann sind…

    Like

  2. E 17. März 2018 / 2:00

    Ich habe Tränen in den Augen, wenn ich mir deine Ohnmacht vorstelle und dann diese unglaublichen liebevollen Glücksmomente.
    Alles Liebe
    Elke

    Like

  3. fundevogelnest 19. März 2018 / 21:39

    Die Worte deines großen Kindes, die sind so schön, die sollte man sich ausdrucken und an die Wand hängen,jedenfalls, wenn man auch so ein interplanetrarisches Großferkel beherbergt und darüberhin dann und wann die Nerven verliert
    Habe meinem Ältesten deinen Text vorgelesen, als wir beide mal ganz in Ruhe essen durften.
    Wir haben gelacht und uns verstanden gefühlt.
    Ein Riesenpaket Kraft wünscht
    Natalie

    Like

Hinterlasse einen Kommentar