Wie erkläre ich meinem Kind seine Autismusdiagnose?

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Im Schwimmbad.
Ich lege den Schwerbehindertenausweis meines Sohnes an der Kasse vor
und zahle für ihn den vergünstigten Preis und selber gar nichts, da ich Begleitperson bin.

Kind: Wieiviel hast du gezahlt? Wie teuer war das? Ist das der Behindertenausweis von F.?

Ja, er liebt Zahlen. Es hat mich nur 6 Euro gekostet.
Nun zu der anderen Frage: Nein, das ist deiner. Ja, dein Bruder hat auch einen. Er hat eine Sehbehinderung, auch die körperliche Entwicklung ist nicht in der Norm. Aber dieser Ausweis gehört dir. Ein Schwerbehindertenausweis. 80%. Als Diagnosen und Grund für den Ausweis stehen in dem Bewilligungsschreiben Autismus, Aufmerksamkeitsstörung und allgemeine Entwicklungsverzögerungen.

Wie soll ich ihm das erklären?

Ich sage: Es hat 6 Euro gekostet. Und nein, das ist nicht der Ausweis von F. Das ist deiner. Du hast auch einen. Weißt du, man bekommt nicht nur einen Ausweis, wenn man ganz offensichtlich eine schwere Krankheit oder eine Behinderung hat wie z.B. der F., der ja nicht gut sehen kann oder wie Leute, die im Rollstuhl sitzen. Mit einer Autismusdiagnose bekommt man auch so einen Behindertenausweis, auch wenn Dein Körper ja ganz gesund ist und du laufen und sehen und all das kannst.

Ich mache eine kurze Pause. Mittlerweile sind wir bei den Umkleidekabinen angekommen. Während ich spreche, gebe ich kurze Anweisungen. „Zieh auch Deine Brille aus!“, „Stopf die Schuhe hier in den Beutel!“  Mal so nebenbei erkläre ich ihm, wovor es mir immer ein bisschen graute. Autismus erklären. Erklären, was mit ihm ist.  Ist das überhaupt so eine große Sache? Das ist doch nur ein Wort. Nur? Nur! Ein „Coming out“? Aufklärung? Ich schleppte so lange gedanklich dieses Thema, das „Autismus-Aufklärungsgesräch“ (als ob es davon nur eines gäbe…Als ob!) mit mir herum, rang mit mir um den passenden Augenblick, das passende Alter, die passenden Worte. Wie eine Mutter, die ihrem Kind etwas beinahe schlimmes gestehen muss. Du bist adoptiert. Du hast einen anderen Vater. Du hast eine Krankheit. Du bist anders. Ist das so? Ich möchte so unbefangen damit umgehen wie nur möglich. Ja, es ist nur ein Wort. Aber es ist eine Diagnose und diese Diagnose ist nicht umsonst gestellt worden. Auch wenn ich manchmal zweifel. Auch wenn mein Mann zweifelt. Wir dürfen zweifeln. Doch wir müssen auch darüber sprechen. Über Autismus. Über Anderssein. Also hole ich Luft und erkläre weiter.

Ich sage: Die Mama von G. hat mir davon erzählt, dass man so einen Ausweis auch mit einer Autismusdiagnose
bekommt, also haben wir für dich nun auch einen beantragt. Der G. hat ja auch eine Autismusdiagnose und der Papa auch.So ein Ausweis ist praktisch, jetzt kommen wir günstiger ins Schwimmbad und ich kann öfter mit Dir gehen.

Mein Sohn hört zu. Mittlerweile haben wir unsere Sachen in ein Schließfach geschlossen und gehen zu den Duschen.

Ich sage: Autismus ist ja keine Behinderung so wie eine Sehbehinderung. Autismus ist eine Art zu sein. Es gibt zum Beispiel Leute, die wie ich recht extrovertiert sind, viel reden, singen, laut sind und so. Das ist auch eine Art zu sein. Extrovertiert eben. So bin ich. Jedenfalls öfters. Und Autismus ist eine andere Art. Nicht so laut. Du singst ja auch nicht so gern wie ich. (er lacht) …Autimus ist der Grund, warum Du so gut Mathe kannst. In deinem Kopf ist ganz viel Platz für Mathe und Ordnen von Dingen, viel mehr als bei mir zum Beispiel. Und dafür etwas weniger Platz für solche Sachen wie singen oder dass du dich schwer tust, dir zu merken, wo deine Kleidung liegt im Schrank.

Kind: Und ich kann viel besser Mathe als andere und Leute ohne Autismus können nicht so gut Mathe. Also ich meine SO GUT wie ich. Oder? Die können vieles so normal-gut, aber nichts so total gut?

Ich: Ja, also.. Die haben auch Begabungen, so wie jeder Mensch. Einer kann gut malen, der andere gut musizieren oder ist supergut in Deutsch oder einer anderen Sprache. Aber eben nicht so wie mit Autismus, so richtigrichtig gut in einer Sache, wie Du in Mathe und Naturwissenschaften. Und in den anderen Dingen bist du eben normal-gut oder übst noch, weil Du dich etwas schwer tust mit dem Sprechen zum Beispiel.

Innerlich atme ich schwer. Ständig sage ich „zum Beispiel“ und komme mir schon total dämlich vor. Ich mag mich nicht festlegen mit einer Aussage. Mag nicht sagen „Autismus ist soundso“. Nichts ist soundso. Autismus ist so, aber auch so und auch so und so ist Autismus auch. Ein Kind will die Welt begreifen, will wissen, wie sie ist. Wie die Dinge sind. Will wissen, wie die Erwachsenen sind. Wie sie die Dinge sehen und benennen. Ich will sie nicht bennenen, bestempelt. Unwiederruflich meine Worte in sein Gedächtnis brennen. Was für eine Verantwortung. Wenn ich jetzt etwas sage, was sein Bild von Autismus falsch prägt? Wenn ich jetzt etwas sage, was meine eigene Sichtweise falsch darstellt. Was ist überhaupt falsch? Ich kann jetzt, hier in dieser Dusche im Schwimmbad, nur das sagen, was ich jetzt eben sage. Und morgen, übermorgen und für jedes weitere Gespräch gilt. Es ist niemals nur ein soundso ist das. Es ist ein: Ich glaube, so ist das.

Ob solche Wischiwaschi-Aussagen einen Menschen wie ihn, den Regeln und Gesetze der Naturwissenschaft begeistern, der klare Ansagen mag und braucht, der auf ein Wort beharrt und den Ironie und Doppeldeutigkeit verwirren, ob ihm so eine Aussage ausreicht ? Ob er sich einlässt auf: Wir finden es heraus, jeden Tag neu, weil jeder Mensch viele Facetten hat und nicht soundso ist ?

Wir sind in der Schwimmhalle angekommen. Es ist ein Freizeitbad mit Palmen, die an gläsernen Fenstern stehen. Riesige Rutschen, viele Becken. Überall Menschen. Ich habe meinen Beinahe-Monolog längst beendet.

Im Kopf spreche ich noch mit mir selbst:

Ich möchte nicht sagen, Du bist Autist. Denn das weiß ich doch gar nicht. Du bist Du, mein Sohn! Du bist klug. Du bist witzig. Du bist super in Mathe. Du bist redselig. Du bist auch still. Du bist kreativ. Du bist tierlieb. Du bist wissbegierig. Du bist herzlich, ganz besonders zu deinem Bruder. Du bist sehr genau. Du bist oft (noch?) unsicher. Du bist neugierig. Du bist Du! Du bist einmalig. Aber Du bist Autist..? Das will ich nicht sagen. Das hört sich so endgülitg an. So nach Stempel. Ich sage: Du hast eine Autismusdiagnose. Du hast manchmal Schwierigkeiten, deine Wünsche zu äußern. Du hast manchmal Schwierigkeiten, Deine Gefühle auszudrücken. Du tust dich etwas schwer, auf andere Leute zuzugehen. Du hast eine spezielle Art, Deine Welt zu ordnen. Du hast einen anderen Blickwinkel.

Im Schwimmbad überrollen die Eindrücke meinen Sohn. So viel Wusellei. So viel los hier. Ich nehme ihn an die Hand. Wir gehen von einem Becken zum anderen. Wir gucken uns erst einmal alles an. Ich gebe ihm einen Plan, gebe ihm Halt.

Es gibst Momente, da würde ich am liebsten schreien: Autismus!! Das ist der, der vor der Tür steht und mich so oft nicht reinlässt. Reinlässt, in Deine Welt!!!   ….dann gibt es Tage, da will ich sagen: Autismus! Das ist der, der Deine Welt überhaupt so wunderbar, bemerkenswert und einmalig macht!     Autismus erklären. Nicht leicht. Hier habe ich noch viele weitere Antworten gefunden auf Autismus.

Ein Gedanke zu “Wie erkläre ich meinem Kind seine Autismusdiagnose?

  1. wheelymum 11. Mai 2016 / 12:02

    Danke dafür! Ich werde deinen Beitrag gerne auf facebook teilen.

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