Als Kind hört man Erwachsene Dinge sagen und glaubt sie. Und übernimmt sie. Hinterfragt nicht.
Phrasen und Sätze.Sprüche. Haltungen.
„Ja, wir können alle etwas gut und auch etwas nicht so gut.“.“Begabung sind verschieden und es ist auch nicht schlimm, etwas nicht so gut zu können.“. „Wir Menschen sind alle unterschiedlich, doch egal, ob wir etwas gut können oder nicht, so ist es doch das wichtigste, dass wir uns gut verstehen, fröhlich sind und gern beisammen!“
Ja. Ja,ja,ja. Das hab ich gehört. Geglaubt. Selber gesagt. Es selber geglaubt. So ist es doch.
Oder?
Vielleicht lasse ich diese Phrasen in Zukunft. Und sage nichts, wenn ich nichts sagen kann. Weil ich selber stumm und ratlos bin. Schweigen ist besser als eine Phrase. Ein Satz, der hinterher noch mehr zerstört als er aufbauen versuchte.
Was tat ich denn, als mein Zweitklässler weinend vor dem Lesebuch saß. ? Nach zwei Wörtern, gestottert, geraten, den großen Zeh angestrengt knetend. Die Wangen rot vor Scham und Wut. Wut über sich selbst. Der Mund, die Zunge, die nicht aussprechen können, was er sagen möchte. Buchstaben, die vor den Augen zu einem Brei sich vermengen.
Was sagte ich?
Ich sagte, dass er das noch lernen würde. Dass wir üben werden. Und dass er ja super in Mathe ist und jeder Mensch etwas gut kann und etwas, das er nicht gut kann. Dass es nicht schlimm sei, wenn man Deutsch nicht gut kann. Und dass er in Mathe ja dafür so ziemlich der beste ist.
Wie funktioniert unser Gehirn?
Was hört dieses Kind?
Meinen Trost? Mein Lob?
„Es ist nicht schlimm. Du wirst es noch lernen. In Mathe bist Du super! Nicht jeder kann alles total gut!“
Irgendwie so etwas wollte ich sagen.
Was kam an bei diesem Kind?
Irgendwie so etwas kam an bei ihm:
„Andere machen Fehler und können damit locker umgehen, nur ich nicht. Ich muss in Zukunft einen riesigen Berg Wörter lesen und lernen und schreiben und diese Aussicht erdrückt mich. In Mathe muss ich weiterhin super sein, denn dort halten mich alle für super-klug. Ich ersticke unter dem Berg an Aufgaben und Ansprüchen, die ich raushöre aus dem, was man mir sagt. Die ich mir selber setze. Denn ich bin nicht gut.“
Eine Woche später ist er fiebrig und krank. Nachts liegt er weinend in meinem Arm. Was hat er?
In Mathe ist er in der Schule nach zwei Minuten fertig. Dann darf er Extra-Aufgaben machen. Für Viertklässler. Er darf sie versuchen, so weit er mag. Er muss sie nicht machen. Nur so weit er kommt. Es ist freiwillig.
Er schafft zwei Aufgaben. Die dritte ist zu schwer. Ein Misserfolg.
Er sagt, er sei schlecht. Es sei ihm zu viel. Zu viele Aufgaben. Zu viel Druck.
Er hätte stolz sein können, so schnell in Mathe zu sein. Dass er schon ein paar Viertklässleraufgaben kann.
Das sieht er nicht. Er sieht, dass er immer mehr machen MUSS. Er hört das KANN gar nicht.
Er ist nicht in der Lage, für sich zu entscheiden, wann es ihm genug ist und er aufhören möchte.
Er sieht nicht den Erfolg. Nur den Misserfolg zum Schluss. Er sieht sich als ein schlechter Schüler.
Er weint.
Was sollen wir diesem Jungen sagen?
Was tröstet ihn? Was nimmt ihm den Druck?
Ich habe den Verdacht, dass Worte das nicht schaffen.
Ich werde nicht mehr sagen, dass er ja „dafür Mathe super kann“, denn das setzt ihn unter Druck.
Ich werde nicht sagen, dass „jeder Mensch etwas gut und auch etwas nicht so gut kann“, denn er sieht sich als schlechter Mensch, wenn er selbst das „nicht kann“, was er doch eigentlich „gut kann“.
Ich werde nicht behaupten, dass es doch am wichtigsten sei, dass wir alle fröhlich sind und gern beisammen.
Denn für ihn eine psychische Anstrengung, mit Menschen zusammen zu sein. Es ist Bereicherung und Anstrengung zugleich. Wenn das nun „das wichtigste“ ist, dass man eben „ein netter Mensch“ ist. Egal ob man Mathe oder Deutsch gut kann. Ja, was ist denn mit dem Menschen, der sich schwer tut, „ein netter Mensch“ zu sein ?
Soziales Miteinander und Empathie, Freundlichkeit und Fröhlichkeit. Sind das die Leistungen, die ein Mensch in unserer Leistungsgesellschaft erbringen muss, wenn er nicht durch Bildung, Wissen und Intelligenz glänzt? Was ist denn, wenn das nicht klappt? Weder Deutsch, noch Freundlichkeit?
Wer sagt denn schon: Du brauchst nicht gut Mathe zu können oder Deutsch. Du bist nicht der sportlichste in der Klasse. Du bist nicht gerne unter Menschen und das Zusammensein mit Dir ist oft anstrengend. Du musst nicht fröhlich sein und höflich auch nicht. Dass Du oft nicht weißt, was Du mit dir anfangen sollst, ist doch nicht schlimm! Deine Interessen muss keiner mit Dir teilen, die sind halt ziemlich speziell.
Denn…. Am wichtigsten ist ja….. …. ? Ja ?…
Am wichtigsten ist, dass Du deinen Weg suchst. Findest. Vielleicht wieder ein Stück zurück gehst. Abbiegst. Noch mal abbiegst. Weitergehst. Hinfällst. Aufstehst.
Am wichtigsten ist, dass Du den Weg gehst. Und suchst. Und findest.
Wenn Du willst, kannst Du alles schaffen.
Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wie diese Botschaft an diesen Jungen gelangt.
Der Junge, der in den Worten andere Botschaften heraushört als vom Sprecher ursprünglich gedacht.
Vielleicht sind Worte und vielleicht ist Sprache auch das falsche Mittel.
Sprache setzt voraus, dass Einigkeit herrscht zwischen den Sprechern bezogen auf die Bedeutung der Wörter. Kommunikation umfasst viele Bereiche.
Dieser Junge, der steckte gestern im Krabbeltunnel seines Bruders. Da stand er im Wohnzimmer, grün eingehüllt von Kopf bis Fuß und wiegte sich zur Musik. Beethoven. „Ich bin ein Di-gen-ten-stab!“ tönte es aus der grüne Raupe. Er schwankte, doch fiel er nicht hin.
Aus den Lautsprechern Geigen und andere Streichinstrumente.
Ein Kind annehmen, heißt, ihn wirklich an sich zu nehmen und zu spüren. Nicht nur zu sagen „Du bist okay.“, denn das sind Worte.
Ein Kind sich entwickelt zu lassen, heißt, dass er sich tatsächlich aus- und entwickeln darf, auch, wenn wir Eltern über all das abgewickelte Zeugs stolpern. Über Laster und Fehler, über Anstrengungen, über Lärm, über Spielzeug, Pappe, Kartons und massenweise Klebeband im Kinderzimmer.
Diesem Kind den Druck zu nehmen, wird mir nie komplett gelingen. Doch ich kann Wege mit ihm gehen. Nicht vor ihm gehen, nicht hinter ihm, sondern neben ihm. Ich werde nicht das Abgewickelte aufsammeln und schon gar nicht sorgfältig wieder aufwickeln. Vielleicht wird er drüber stolpern oder andere stolpern. Ich werde Ortsschilder vorlesen, wenn er sie nicht erkennt. Ich werde meinen eigenen Weg gehen und vorleben, dass wir Menschen ab und an trampeln müssen, ab und an vor großen Kreuzungen stehen. Wir müssen alle selber gehen und keiner sollte bei anderen mitfahren müssen, denn dann ist es nicht mehr der eigene Weg. Wenn er humpelt, dann trage ich ihn. Aber nur ein Stück. Wenn er falsch abbiegt, dann erinnere ich mich, dass jeder Mensch, auch ich, ab und an falsch abbiegt. Dann muss man eben länger gehen oder wieder zurück.
Ich möchte ihn an mich nehmen und ihn an-nehmen. Und ihn so sein lassen, wie er ist.
Die Phrasen von früher lasse ich sein, denn da tanzt eine Dirigentenstab-Raupe in meinem Wohnzimmer. Ganz frei.
Das hört sich so einfach an…..und wäre so schön, wenn es ginge …. Vllt. Klappt es nicht immer, aber die Haltung, die du zu deinem Schatz hast, macht es ja vllt. Schon aus … Das hoffe ich zumindest für uns……
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Es ist oft sehr schwer. Leider. Gar nicht so leicht, wie ich es hier schreibe. Aber, und daran glaube ich ganz feste: bei jedem Mal, bei dem es klappt, wächst ein neues Pflänzchen in ihm.
Liebe Grüße!
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