Alltag

Seit ich Mareices Interview gelesen hatte, in dem sie unter anderem darüber schreibt, wie sie als Mutter eines behinderten Kindes einen Weg findet, sich auf dessen Stärken zu konzentrieren und diese und das gemeinsame Familienleben zu fördern, schwirrten mir ein paar Worte im Kopf herum dazu. Wahrscheinlich wollte ich irgendetwas schreiben zwischen „Förderung nutzt ja auch“ und „Danke, dass Du mich daran erinnert hast, wie wichtig das Gemeinsame doch ist im Förder-Therapie-Stress“. Dazu hatte ich irgendwann mal auf ihrem Blog gelesen, dass Alltag für sie ein Ausnahmezustand und beinahe etwas exklusives sei, da immer irgendetwas sei, dass am Alltaghaben hindert. Damit erinnerte sie mich abermals an die Wunderbarkeit des Alltags.  Jetzt habe ich diesen Text zum Thema Alltag verfasst und plötzlich fallen mir Mareices Worte ein, die angesichts des Todes ihrer Tochter eine völlig neue, viel gewichtigere Bedeutung bekommen. Für jeden Tag, der Alltag ist, möchte ich danken.

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Alltag.

Es trubelt wieder. Alltagstrubel. Kurz war er weg. Nicht an den Feiertagen mit fiebrigen Kind in der Notfallsprechstunde. Aber danach kurz. Auf einer Couch in einer kleinen Wohnung in einer mittelgroßen Stadt an der großen Ostsee. Mit einer Tasse Tee in der Hand und drei schlafenden Kindern in den Zimmern verteilt. Wuschelige Kinderköpfe und halb-besockte Kinderfüße, die aus dicken Decken hervorblitzen, darunter zwei, die sich verstehen. Neben mir und dem Tee eine zweite mit Tee und wir verstehen uns auch. Es trubelt hier auch, aber auf eine andere Art. Ab und an ist das eine gute Abwechslung zum geordneten Chaos zuhause. Trotzdem vermisse ich das im selben Moment. Das ist Ambivalenz. Zuhause ist der 5:30 Uhr-Aufstehen-18-Uhr-Abendessen-Rhythmus, den gibt es hier nicht. Um 22 Uhr essen wir Chili und Brot und aufstehen tun wir erst gegen 9 Uhr.

Jetzt ist wieder normaler Trubel und meine to-do-Liste ist lang. Der Drucker ist kaputt, ich steh im Copy-Shop, dort fehlen Dateien auf meinem Stick und plötzlich fällt mir ein, dass ich dringend einen Brief wegschicken muss und das mach ich dann auch. Dann noch das Kontaktlinsenlabor anrufen wegen der verloren gegangenen Linse und den Optiker anrufen, ob denn nach vier Wochen die Brille abholbereit ist. Beide sind nicht erreichbar, der Handyakku fast leer, dann eile ich zum Seminar und bin nur semi-vorbereitet und das muss ausreichen. Und zum Prüfungsbüro wollte ich auch noch, herausfinden, welche Prüfungsordnung nun für mich gilt, und zur Bibliothek und dann noch Einkaufen fürs Abendessen und ein Geschenk für diesen und jenen und welchen zum Geburtstag, weil sie alle im Januar Geburtstag feiern.

Es trubelt wieder. Der Alltag. Ich laufe aus der Uni raus, gedanklich schon den Bibliotheksausweis suchend, doch weil es so kalt ist, warten die Hände noch in den Taschen der Jacke. Es ist 12 Uhr. Viertel nach ist das Mittagsgebet. Untrubelig und warm. Letztens war ich dort mit meiner Freundin, nicht die von der Ostsee, sondern vom anderen Ende und trotzdem weit weg und vermissen kann ich ebenso gut südlich wie nördlich.

Es war so schön. Und viel zu selten. Also laufe ich rein. Und laufe nicht mehr, sondern gehe. Und komme an. Die Mütze vom Kopf, die Hände aus den Taschen.

Eine Viertelstunde Gebet und Gesang. Wir sitzen uns am Altar gegenüber. Fremde und ich, eine handvoll Menschen. In dem Heftchen in meiner Hand steht die heutige Lesung. Jesus als Jugendlicher im Tempel (Lukas 2,41-52). Ich frage mich, ob das hier ein Fliehen vor dem Alltag ist und finde, dass das nicht ist. Denn Alltag ist das, was ich lebe und gestalte und bejahe und mir gut tut. Und hier zu beten und zu singen ist Alltag, nur eine andere Perspektive, in einer andere Position. Beten und Singen ist leben und bejahend und tut gut. Mit jedem Vers entspannt sich meine Stimme. Sich auf die Melodie und den Text zu konzentrieren erfordert Konzentration. Am Schluss liest Jemand die Fürbitten. Die allererste Fürbitte: Wir bitten für Eltern, die autistische und hyperaktive Kinder erziehen und begleiten. Dafür bitten wir. Und ich. Für mich. Für andere Eltern.
Und schon bin ich wieder draußen. Und im Prüfungsbüro. Ich sehe mich Obsttüten schleppend im Regen zur Tagesmutter eilen, dort merke ich dann, dass die Kontaktlinse weg ist. Danach Kleinkindfinger aus Bahn-Schiebetüren retten. Ist das grad noch gut gegangen, beißt es zuhause von der Möhre ein ungünstig großes Stück ab und verschluckt sich gruselig und laut hustend. Ich halte es panisch an den Beinen hoch, übers Knie und klopfe und klopfe, irgendwann fische ich das Stück mit nassen Fingern aus der Kehle und schreibe im Geiste ein Post-it: endlich mal einen Erste-Hilfe-Kurs für Kinder zu absolvieren und ein zweites Post-it: keine rohen Möhren für das Kind. Puh. Weiteratmen. Der Pizzastein im Ofen riecht merkwürdig verkohlt und der Schal des großen Kindes ist mal wieder nicht an seinem Hals, als er heimkommt. Egal. Er erklärt mir:

Mama, ich glaube, Förderschulen sind richtig gut. Die Kinder dürfen länger spielen als die momale Zeit. Heute waren wir im Förderzentrum, obwohl nicht Freitag ist, aber das ist kein Polem. Weißt du, bei momalen Schulen ist die Verteilung so 90 die Lehrer und 10 die Kinder und bei uns nur 30 die Lehrer und 70 die Kinder. Hier haben Kinder Macht.“

Kind, du bist herrlich! Ja, das ist Alltag und Trubel. Dem Pizzastein geht es gut. Dem Kleinkind zum Glück auch, es isst jetzt Mozzarella und schmiert ihn ein bisschen in die Haare. Mir fällt noch die Überweisung zum MRT ein, die ich abholen muss, und hab den letzten Satz vom Großkind nicht mehr richtig gehört. Dabei war seine Aussage doch unglaublich schön und meine Dankbarkeit für sein Schulwohlgefühl unbeschreiblich groß. Abends zanken wir auch noch beim Lesenüben und danach trete ich sockigen Fußes in Zahnpastakleckse.

Kein Chili am Abend. Keine Freundin mit Tee. Aber ein Laptop und ein paar Mails noch für die Uni und für andere Organisation. Die verlorenen Dateien auf den Stick übertragen. Und unendliche Dankbarkeit für diesen Alltag. Ich backe Waffeln am Abend, das ist besser als Lernen. Sitze mit dem Lieblingsmensch auf der Couch, stelle den Wecker auf 5:30 Uhr und weiß wieder, warum, und dass es gut ist.

3 Gedanken zu “Alltag

  1. Kerstin 12. Januar 2016 / 11:19

    Liebe Taugewas!
    Genau so ist es…Punkt. Habe letztens noch einen Text von einer Freundin bekommen, in dem es darum geht,was in den verschiedenen Entwicklungsphasen der Kinder anstrengend ist und was dann aber später im Rückblick das Wichtige gewesen sein wird. Auch ich versinke manchmal in Organisation, Alltagsstress und den vielen Dingen, die einfach so passieren und damit überhaupt nicht in den Plan passen, den man eigentlich für den Tag, die Woche hatte. ..manchmal steh ich nachts um 1 am Bügelbrett und frage mich, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe…
    Dann, genau dann, muss man inne halten und einfach dankbar sein: dankbar dafür, dass die Jungs da sind und glücklich in ihren Betten schlafen und vorallem , so Gott will, morgen wieder aufstehen und sicher weiter leben und lachen können.
    Aber auch Auszeiten sind wichtig, um wieder anzukommen bei sich selbst. Wir fahren jetzt ein verlängertes Wochenende ins Dauerlauf auf einen Bauernhof. Der Plan war im Ursprung, dass dort dann Schnee liegt….wird aber wohl nicht so sein. Pläne eben. Aber ich weiss, dass es schön werden wird. Der Grosse liebt Kühe über alles und wird den halben Tag im Stall stehen und der Kleine hat Spass, egal wo er ist…Hauptsache wir sind dabei.
    LG und einen schönen Allrag, Kerstin

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    • Kerstin 12. Januar 2016 / 11:21

      Sauerland nicht Dauerlsuf…wo auch immer der hetzt herkam. Vielleicht ein versteckter Hinweis mal wieder Sport zu machen;-).

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    • Taugewas 16. Januar 2016 / 22:06

      Liebe Kerstin,
      ich wünsche Euch viel Spaß auf dem Bauernhof!! Wir waren mal auf einem Bauernhof in der Eifel, unser Sohn fand es super toll dort, er mag Schafe und Hühner sehr gerne. In der Schule gibt es Schafe, die er wöchentlich besuchen kann, ich glaube, dass Kinder wie er zu Tieren einen besseren Draht aufbauen können als zu Menschen..
      Euch also eine schöne Zeit dort und danach einen schönen Alltag :)

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