Stolpernde Helden

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Das kleine Kind fieberte abends und bleibt am Folgetag zuhause und geht nicht zur Tagesmutter. Statt in der Bibliothek zu lernen, kaufe ich Zutaten für den Geburtstagskuchen des großen Kindes.

In der Fußgängerzone wankt er hin und her, rudert mit den Ärmchen, macht zwei, drei, vier wackelige Schritte, dann fällt er gekonnt auf die Knie oder den Hintern, berappelt sich, um schnell weiterzuwanken, weiterzuschwanken, weiterzufallen. Von einem Schaufenster zum nächsten, zum Fahrradständer, zur Häuserwand, um sich abzustützen, um überhaupt irgendwo hinzulaufen und nicht ins Nichts. Um ein Ziel zu haben. Eine Litfaßsäule oder die Schuhe vor dem Schuhgeschäft oder die Frau mit dem Hund. Hauptsache wohin, denn wer nirgendwohin läuft, der kommt auch nicht an.

Also die Frau mit dem Hund. Sie ist entzückt. Du großer Held, ja toll machst Du das! Ist ja auch nicht leicht, mit so einem abgeklebten Auge. Ja klasse, ja pass auf! Ach nun sitzt Du auf dem kalten Boden.  Aber nicht lange, dann steht er auf und wankt weiter.  Ach, Du großer Held! Mein Neffe, ein Frühchen, hatte das ja auch alles mit dem Augenpflaster und auch blond und eine rote Jacke, ja, der lernte dann auch so wackelig laufen..TOLL machst Du das! Oh, was bist Du für ein Held!

Er wankt orientierungslos, ein Ziel suchend. Das Bein der Frau. Aaabaaa Baabaa. Baabaa. Daaaaada. Schon streckt er sich nach ihr aus. Sich festzuhalten, um nicht umzufallen. Anzufassen, um zu be-greifen, um zu sehen, was das Auge nicht sieht. Ich halte mich nur kurz fest, nur, um nicht umzufallen. Ich fasse dich nur kurz an, nur, um zu sehen, wer du bist. Aaaaabbaaaabbaaa.

Die Frau: Oh, nein, ich bin nicht der Papa! Aber ein Held bist Du, oh ja!

Schon ist er weitergelaufen, zwei, drei, vier Schritte, rudern, wanken, hinfallen.

Sie erzählt noch ein bisschen von ihrem Neffen, dass er nun zwei ist und dass es nun alles ein bisschen besser geworden ist mit ihm. Das zu hören, ist schön. In einem Monat ist mein Kind auch zwei, ob es dann wohl besser wird?

blog35

Wir verabschieden uns. Im Geschäft sitzt er im Wagen. Schwankend wie Wackelpudding auf hoher See. Die dünnen Beinchen auf dem Sitz, der Oberkörper über den Einkaufswagengriff, eine Hand greift nach dem Rollfondant im Regal, schmeißt ihn runter und schmeißt sich selber beinahe hinterher, ich ziehe ihn hoch, sortiere Arme und Beine neu, Tütchen Backpulver in der Hand, wandert in den Mund, runterwerfen, ich bücke mich, Beinchen aus dem Sitz, Kind hängt im Regal, Kind nimmt sich die Brille von der Nase. Kind sortieren, Brille auf, Kind qüäkt, Backpulver in der Hand, Zucker kaufen, weiterfahren, Tüte runterwerfen, bücken, Brille runter, Brille auf, qüäken, weiterfahren, Kind sortieren, Butter kaufen, Brille runter, Brille rauf, quäken, weiterfahren, Kind hängt aus dem Wagen, Kind sortieren, qüäken, Eier kaufen, nein, die sind kaputt, Eier zurücklegen, qüäkendes Kind, Tütchen Backpulver in die Hand, neue Eier, Brille runter, Tüte runter, Brille auf, Kind quäkt, Tüte aufheben, Brille runter, Kind kippt fast aus dem Wagen, Brille auf, Kind in die Babytrage, weiterfahren, Bananen kaufen, Kind qüäkt, weiterfahren, Kiwis kaufen, Kind schläft.

Zuhause backe ich schon mal Kuchen vor, denn ich brauche drei für einen Tag. Den Geburtstag. Einen für zuhause, einen für die Schule und einen für die Nachmittagsbetreuung. Dann brauche ich noch einen für zwei weitere Tage. Eine Hälfte für den Tag, an dem er nicht feiert, und dann noch die andere Hälfte für den anderen Tag, an dem er auch nicht feiert. Er feiert nicht. Keine Feier. Keine Party, keine Partyspiele, kein Gesang und keine Geburtstagspiele mit Gewinnen. Keine Feier, aber Kuchen. Schon letztes Jahr war das so. „Mama, ich will keine Feier.“

Ich finde das wunderbar. Ich dachte immer, ich müsste das, doch ich muss es gar nicht, ich darf es nicht mal, das ist wirklich toll.

Als er vier wurde und als er fünf wurde, da hab ich Kasperltheater gespielt, habe eine Schnitzeljagd im Schnee veranstaltet, habe Kuchen serviert und die Wohnung voller Kinder gehabt, habe Konfetti gekauft und es die folgenden Wochen bitter bereut, denn Konfetti versteckt sich in allen Ritzen. Mein Kind hat riesige Papierknöllchen dem Kasper in sein albernes Theater geworfen, bei der Schnitzeljagd nicht mit sondern gegen die anderen Kinder gespielt und während eine Horde Kinder durch unsere Wohnung lief, mit dem Bobbycar fuhr, Kamelle schmiss, lärmte und sang, saß er mit einem Gast-Geschwisterkind in der Ecke und spielte Pferdchen.

Nie mehr Kindergeburtstag. Als er das letztes Jahr klarstellte, fiel eine Last von mir, die ich mir selber aufgeladen hatte, denn dieses Kind wollte nie Kindergeburtstag feiern, konnte es mir allerdings erst mit zunehmenden sprachlichen Fähigkeiten mitteilen. Vielleicht konnte ich es auch lange Zeit nicht glauben. Welches Kind mag denn keine Feiern..? Tja.

Jedenfalls backe ich Kuchen auch für die Tage, an denen er nicht feiert. Er feiert zwei Mal nicht. Einmal mit dem einen Freund aus der Nachmittagsbetreuung und einmal mit einem Freund noch aus der Kindergartenzeit. „Ich will mich nur mit einem treffen, wenn es viele sind, dann gibt es Streit, das mag ich nicht.“ So viel Selbstreflexion und Erkenntnis über die eigenen Fähigkeiten und Bedürfnisse möchte ich unbedingt belohnen und lade die Jungen einfach hintereinander ein. Um im Falle des Komplettkuchenessens noch einen fünften Kuchen backen zu können, gönne ich mit zwei Tage Zeitpuffer zwischen den Treffen. Um keinen sechsten Kuchen backen zu müssen, sahnt das Kind seine Verwandtengeschenke einfach bei der Feier des Opas ab. Das wird eine kuchenreiche Woche.

Das Großkind schreibt Briefe…

Ich backe mit Kind in der Babytrage einen Minecraft-TNT-Block aus Schokolade mit Fondant. Brille runter, Brille rauf, Kuchenmatsche an der Brille. Ich denke an mein großes Kind, so wunderbar, einmalig. Wie er als Otzelot auf dem Boden kriechend kleine Papierschnipsel sortiert und erklärt: „Ich zubereite gerade mein Essen!“. Warum eigentlich ruft dann keiner: Mein Held! Oh ja, Du bist ein Held! Toll machst Du das! Ja klasse! Du Held!

Weils keiner sieht und keiner merkt, weil keiner etwas davon weiß. Weil keiner, wenn er es denn sieht, versteht, was da passiert. Weil der Kleine mit ausgebreiteten Armen so schnuffig und schnubbelig Euch in die Arme stolpert, so lachend und so sichtbar. Sichtbar, dass er behindert ist, irgendwie, jedenfalls, dass er sich schwer tut damit. Ja, da rufen wir doch, wie toll er das macht, JA KLASSE!, Sie brauchen nicht schreien, er ist ja nicht hörgeschädigt, aber, so im Insgeheimen, das weiß man ja nie, bei diesen Etwas-Zurückgebliebenen, da spricht man halt was lauter, damit er auch hört, WIE TOLL ER IST, MEIN HELD! Mein Held. Das sagt doch keiner zu dem, der es hören müsste. Zu dem, der nicht heldenhaft Selbstverständliches tut, zu dem, der sich merkwürdig-selbstverständlich vertut, zu dem der angestrengt Selbstverständliches tut und im Insgeheimen heldenhaft Merkwürdiges tut, zu dem sagt keiner mein Held.

Mit wackeligen Beinen, einäugig durch die Stadt zu tapsen, ist heldenhaft, selbst wenn Laufen für uns Starkbeinige selbstverständlich ist. Mit einer anderen Wahrnehmung von Regeln, sozialer Interaktion und Kommunikation täglich durch den Schul- und Familienalltag zu tapsen, ist heldenhaft, selbst wenn die Regeln, Interaktion und Kommunikation für uns Normalwahrnehmende selbstverständlich sind.

Mein Held. Mein Held. Ich sag lieber Wunderkind. So wunderbar, mein Kind. Am Tag darauf komme ich zum Lesen, da das Kleinkind gesund bei der Tagesmutter ist und der Bus auf sich warten lässt. Die Fachzeitschrift „Gemeinsam Lernen“ schreibt in der aktuellen Ausgabe von individueller Förderung. In diesem Zusammenhang unterscheidet der Autor zwischen dem Fördern der leistungsschwachen (beeinträchtigten) Kinder, dem Fördern der leistungsstarken (begabten) Kinder und schreibt über die Herausforderung, die „mehrfach außergewöhnlichen Personen“ (etwa begabte bzw. talentierte Kinder mit Beeinträchtigungen), individuell und optimal zu unterstützen. Fast muss ich grinsen. So einer bist Du also. Kein Held, kein Wunderkind, sondern „mehrfach außergewöhnlich“. Es klingt so holprig. Bloß nichts falsches schreiben, aus Angst, zu pauschalisieren, aus Sorge, ein zu negatives Bild zu entwerfen, zu einseitig oder zu sehr auf die Beeinträchtigung fokussiert. Dabei ist es doch fast egal, wie ihr es nennt, solange ihr seht, was für Helden das sind. Kinder, die sich bemühen und stolpern. Kommunikativ stolpern. Sozial stolpern. Genau diese Kinder brauchen Menschen, wie die Frau in der Stadt, die applaudiert, obwohl das Kindchen kaum drei Schritte tat. Menschen, die applaudieren, obwohl ein fast Achtjähriger sich kaum mit drei Menschen gleichzeitig treffen kann. Applaudieren, dass es mit einem oder zwei Menschen klappt. Applaudieren, dass er Selbstverständliches tut.

4 Gedanken zu “Stolpernde Helden

  1. Natalie 21. Januar 2016 / 22:45

    Ja, eigentlich ist das doch das Wesen des Heldentums: Etwas unter Mühen, Anstrengungen, Entbehrungen, Tricks und was ich noch vollbringen. Mit einem Drachen,der sich nach einmal „Buh“ sagen in eine Prinzessin verwandelt, wird man nicht zum Helden (es sei denn, man kann nicht „Buh“ sagen ….).
    Meinem mittleren Kind (fast 15, geistig behindert) scheint die Welt oft von Drachen umstellt. Nun hat das Kind es gerade schlotternd mit dem Praktikumsdrachen aufgenommen,in der ersten Woche war er ein zäher Bursche bzw.die Chefin war streng, die Motivation abgestürzt in einen Tiefseegraben, es sah nach Aufgabe aus, nicht nach Heldentum…
    Aber nun ist das Praktikum zu Ende und mein Heldenkind fleht bei Chefin und Lehrerin um Verlängerung.
    Bin schon ein bisschen stolz.
    Hoffe ihr hattet ein wunderbaren Geburtstag und könnt noch Kuchen sehen,ich nicht mehr, das Praktikum war in einer Konditorei und das Kind durfte oft nicht verkaufte Stücke mit nach Hause bringen. Ein Minecraft Kuchen mit Fondant wäre für mich übrigens ein Drache der höheren Kategorie … da verzichte ich aufs Heldentum …
    Ein Hoch auf unsere tapferen Kinder, immer wieder.
    Und dir ein „Danke“ für mal wieder interessante Gedanken.
    Natalie

    PS: Einkaufen mit meinem Zwerg ist so ähnlich, besonders Brille ab, auf, ab; er kann zwar sitzen, tut es aber nicht…Sag mal, würde dir und deinem Kleinen ein angepasster Buggy nicht vielleicht den Alltag erleichtern?

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    • Taugewas 23. Januar 2016 / 23:25

      Hallo Natalie,

      ich kann Deinen Stolz sehr verstehen. Wie toll, dass er sogar eine Verlängerung erfragt. Dieses Sich-Mitfreuen für Dinge, die „eigentlich“ Selbstverständlichkeiten sind, das verstehen nur Eltern besonderer Kinder, glaube ich..
      Als mein Großer mit vier Jahren beim Sommerfest sich traute, selbstständig nach einer weiteren „Appetoote“ (Apfelschorle) zu fragen, da platze ich fast vor Stolz, ich erinnere mich noch gut.
      Ganz ganz toll, dass er es mit dem Praktikumsdrachen aufgenommen hat und ihr dürft stolz sein!!!
      Zum angepassten Buggy: Ich hab ihn lange umgehen können (es gibt 1000 Gründe, z.B. dass ich mit Bus und Bahn täglich unterwegs bin zur Uni/Tagesmutter und dort keine behindertengerechten Umstiegsmöglichkeiten sind und ich immer dem übervollen Bus nachrenne, dass wir ja eigentlich einen Radanhänger-Kinderwagen-Buggy-Dings haben, es aber wegen Hypotonie nicht nutzen, dass der Hausflur zu klein ist für einen Buggy, dass ich sowieso das Kind besser vorm Bauch gebunden trage, um Brille und Linsen kontrollieren zu können, dass ich beim Einkaufen schon mit einem Einkaufswagen genug zu schieben habe, dass ich den Großen auch kinderwagenfrei hatte, dass ich es liebe, meine Kinder im Tuch/Trage zu tragen, dass das Kind im Wagen schreit, weil es nicht in die Ferne gucken kann…. ), aber tatsächlich bin ich nun nächste Woche zwecks Therapie-Buggy im SPZ. Das größte Problem bin ich. Dieser Wagen ist ein Ausrufezeichen, ein So-ist-Es. Und das nicht genutzte Laufrad ist ein So-ist-Es-nicht. Als ob die Tatsache, dass ich keinen Thera-Buggy habe mein Kind weniger behindert machen würde. … Mein Kopf wieder..

      Liebe Grüße!

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  2. Natalie 24. Januar 2016 / 21:22

    Ich wollte auch keine ungebetenen Ratschläge verteilen …Fiel mir nur so spontan auf, und auch wenn du dann einen Buggy hast, darfst du ihn ja noch jederzeit ins Tragetuch stecken.
    Mein Kleiner hat die Nähe imTuch anfangs nicht ertragen, hat gekämpft wie ein Hai im Fischnetz … Das hat mich ganz schön traurig gemacht, jetzt mag er es manchmal ganz gern.
    Aber Kinderwagen zieht er immer noch vor.
    Vielleicht ist dein Kleiner ja zufriedener in der Karre,wenn er fühlt , dass er sicher sitzt, ich drück’die Daumen, dass es so sein wird.
    Die Brille sichere ich unterwegs mit einem Schnullerband (am Bügel befestigt),geht mit Kontaktlinsen natürlich nicht.
    Beim Einkaufen lege ich die Waren bis zur Kasse ins Kinderwagennetz, hat noch nie eine Verkäuferin was wegen gesagt.
    Ihr findet bestimmt einen Weg.
    Alles Liebe
    Natalie

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    • Taugewas 28. Januar 2016 / 0:26

      Ich bin ja dankbar um jeden Ratschlag, denn viele hilfreiche Lösungen kenne ich (noch) nicht :) Die ersten 6 Monate wollte unser Kleiner auch nicht getragen werden, ich glaube, das lag an der Halswirbelsäule (KISS).. Irgendwie hoffe ich auch, dass uns der Thera-Buggy helfen wird, er wird ja noch längere Zeit nur wenig/kurz eigenständig laufen..

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