Die Fabel vom strahlenden Stern

blog96

Einst gab es einen wunderschönen Stern. Hell und strahlend und mit vielen spitzen Zacken, die sein Licht in alle Richtungen streuten. Doch im Gegensatz zu den anderen Sternen flog er nicht durch den dunklen Weltraum, um dort sein Licht und sein Strahlen auszusenden. Nein. Dieser Stern wollte selber sehen, an welche Orte sein Strahlen gelangt. Dieser Stern wollte wissen, wer sein Strahlen empfängt, wer sein Licht zu schätzen weiß, wer unter seinem Leuchten erwacht oder einschläft. Also änderte er seine Bahn und plumpste auf einen Planeten. Ein Planet, ganz rund, bewohnt von vielen, vielen Bällen. Alle waren samtweich und glatt. Wenn der Wind wehte, so rollten sie alle einheitlich in die selbe Richtung. Dieser Planet war ein riesiges Bällebad. Reibten sich die Bälle aneinander, so tat es ihnen nicht weh, weil sie alle so perfekt rund und frei von jedem Hubbel waren. In dieses Bällebad fiel der zackige Stern und wollte die Welt der Bälle kennen lernen.

Er leuchtete immer noch wunderschön, doch aus direkter Nähe blendete sein Leuchten die Bälle. Der Stern war grell und viel zu hell. Die Bälle rollten von ihm weg und suchten Schatten. Er bedeckte sich mit einem dunklen Tuch, das einen Teil seines Leuchtens dimmte. So versuchte er erneut, die Bälle kennen zu lernen. Als er näher kam, stachen seine spitzen Zacken in einen Ball. Pffffffff. Der Ball hatte ein Loch, er verlor an Luft und welkte wie eine trockene Blume. Immer wieder versuchte der Stern, die Bälle kennen zu lernen, doch nie gelang es ihm. Sie rollten von ihm weg, um nicht gepiekst zu werden.

So geschah es, dass der Stern sich einen seiner Zacken absägte. Er stellte ihn aufrecht neben sich, doch abgeschnitten leuchtete er nicht mehr. Die Stelle, an der der Zacken vorher gewesen war, wurde dunkel und matt. Jetzt kann ich mich endlich den Bällen nähern, dachte der Stern. Jetzt können sie ganz nah an mich heran. Ich bin dunkel und glatt an einer Stelle. So mögen es die Bälle. Tatsächlich trauten sich ein paar Bälle an den Stern heran. Doch richtig kennen lernen konnte der Stern die Bälle nicht. Die Bälle rollten und rieben sich aneinander, sie kullerten gemeinsam Abhänge herunter und quetschten sich zusammen in enge Kisten. Sie ließen sich vom Wind wegrollen und wuselten ständig herum. Still schienen sie nie zu sein. Der Stern konnte nicht rollen, nicht reiben, nicht kullern, nicht quetschen, nicht wuseln und schon gar nicht vom Winde verweht werden. Er stand daneben, mit seiner matten, dunklen Seite, und war allein. So geschah es, dass er sich eine weitere Zacke abschnitt. Und noch eine. Die Bälle meinten, er könne doch ein Ball werden wie sie. Wenn er erst ein Ball wäre, dann könne er all die Dinge erleben, die sie erleben. Dann könne er mit ihnen zusammen all die Ball-Dinge tun. Er würde auch rund und glatt sein und fühlen, wie schön die weiche Nähe im Bällebad doch ist. Der Stern schnitt sich bis auf eine einzige Zacke alle Zacken ab. Die abgeschnittenen Zacken verloren ihr Leuchten. Nur noch eine einzige Zacke leuchtete. Der Stern war sehr dunkel und matt, er brauchte sein dunkles Tuch nicht mehr. Er wusste, dass er ohne seinen letzten Zacken erlöschen würde. Er wäre kein Stern mehr.

Der Wind blies über die Bällewelt und die Bälle rollten als riesige Welle in eine Richtung. Nur der einzackige Stern, er rollte immer noch nicht. Er streckte seinen Zacken nach vorne, um sich selber den Weg zu leuchten. Die Bälle rollten von hinten an ihn heran. Hee, Du, warum bist Du immer noch nicht rund? Du kannst ja immer noch nicht rollen! Und leuchten tust Du auch nicht mehr richtig! Sie drängten ihm sich auf, wollten näher an ihn heran. Sie wollten wissen, was mit ihm ist. Warum er kein richtiger Stern mehr ist. Warum er kein Ball ist. Warum er im Wind nicht rollt. Einer der Bälle stupste an seinen letzten Zacken. Da wurde es dem Stern zu viel. Er fuchtelte mit seinem Zacken nach links und nach rechts, halb ängstlich, halb wütend. Dabei stach er vier Bälle. Pffft. Pffft. Pfffft. Pfffft. Sofort kamen zwei große Bälle und führten ihn ab. In der Bällewelt sind alle weich und rund. In der Bällewelt sind alle eng zusammen und rollen in die selbe Richtung. Wir dulden nicht, dass Du hier mit Deinem Zacken herumfuchtelst! Wir dulden nicht, dass Du die Luft aus den Bällen piekst. Entweder Du wirst ein Ball oder Du musst zurückgehen. Der Stern hob seine einzige Zacke in den Himmel und flog zurück. Dort leuchtete er als zartes Licht.

Viele Jahre später bekam der Stern einen Sohn. Dieser war einer der schönsten und hellsten Sterne, der je durch das All geflogen ist. Seine Zacken zeigten in alle Richtungen und sein Leuchteten erreichte viele Planeten. Dieser junge Stern fragte seinen Vater: Weshalb besitzt Du nur eine einzige Zacke, ich jedoch unendlich viele? Wo sind Deine anderen Zacken? Da antwortete der Vater: Mein Sohn, ich habe früher viele leuchtende Zacken gehabt und in alle Richtungen geleuchtet. Ich habe meine Zacken verloren, doch ich habe auch etwas gelernt dabei: Wir Sterne leuchten für Hundert, nein Tausend, nein Millionen, doch selber sind wir hier oben allein. Wir Sterne können in alle Richtungen strahlen, doch empfangen wir selber kein Licht. Besonders wichtig ist jedoch: Wir Sterne fliegen in unserer eigenen Bahn, wir werden nicht vom Wind getrieben. Wir Sterne haben das riesige All für uns, wir rollen nicht immer und immer wieder die selbe kleine Planetenkugel entlang. Wir Sterne sind zum Leuchten gemacht, mein Sohn. Wir sind hell und wir strahlen und unsere Zacken sind wunderschön. 

4 Gedanken zu “Die Fabel vom strahlenden Stern

  1. Natalie 26. Dezember 2016 / 23:09

    … und nie werden die Bälle erfahren, was sie alles durch eigene Verbohrtheit verpassten.

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  2. Ela 28. Dezember 2016 / 19:53

    Wunderschön und sehr traurig zugleich… Vielen Dank!

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  3. Frau Taugewas 6. Januar 2017 / 8:07

    Danke Euch für die lieben Kommentare! :)

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