Wartezeit

Zeit ist etwas merkwürdiges. Gefühlt habe ich viel zu wenig davon und trotzdem verbringe ich sie doch so oft mit warten. Warten, dass die Gesichtsmaske einwirkt. Warten, dass der Bus kommt. Auf das trödelnde Kind warten oder darauf, dass der Tee gezogen ist. Warten kann furchtbar sein. Warten kann Raum geben, noch zu hoffen. Warten erfordert Geduld und lässt einen sich selbst kennen lernen. Warten heißt Zeit haben. Zeit, die man sich sonst nicht nehmen würde, die man gar nicht übrig hat. Und doch: Ich warte.  Auf Blutwerte aus dem Labor. Sie brauchen vier Wochen. Es ist gut, dass sie so lange brauchen. Zeit, um für sich zu klären, was man hoffen möchte. Um sich zu informieren, belesen. Um am Ende doch genau zu wissen: Wir haben es nicht in der Hand. Vier Wochen, in denen das Warten, aufgezwungene Zeit, mir zeigt: Was sein wird, liegt nicht in meiner Hand. Zeit, die eigene Haltung zu überdenken. Wünsche und Pläne zu hinterfragen.  Wartezeit, die ich dankbar annehme.  Nicht nur auf Laborwerte.

Das Leben bietet mir genug Gelegenheit zu warten. Vornehmlich in eigens dafür eingerichtete Örtlichkeiten. Im Wartezimmer des Augenarztes lerne ich eine Frau kennen. Vier Jahre älter und zwei Kinder mehr als ich bin und habe. Sie wartet und ich warte. Genau wie der Vater mit seinem Sohn im Flur der Augenklinik, den ich später im OP-Aufwachraum treffe.  Zusammen warten wir. Menschen. Begegnungen.  Wartezeit ist Zeit für Gespräche. Die ältere Dame, die mich anspricht, als ich in der Wartehalle der Deutschen Bahn sitze, wartend mein Ticket stornieren zu können, denn statt des geplanten Besuchs bei meinem Opa, verbringen das Baby und ich den Samstag in der Klinik. Postoperativ. Ich habe Nummer 92 gezogen. Wir sind bei 78. 14 Nummern Zeit. Für ihre Gedanken. Für meine.

Warten heißt auch schweigen. Schweigen ist schwer in einer Welt, in der jeder seine Gedanken kund tun will. Sind diese noch so unwichtig. „10 Prozent was man redet, muss man gar nicht sagen, weil das nicht wichtig ist“ merkt mein Sohn. „Nur 10 Prozent?“ überlege ich. „Naja, 30 Prozent.“ Er hat Recht, finde ich. Ich schweige. Ich möchte hören, nicht reden. Mein Sohn spricht ohne Punkt und Komma. Klug und Witzig. „Du redest wie ein Buch.“ sage ich. „Wie ein gut geschreibtes Buch.“ lacht er.

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