Wir bekommen für unseren großen Sohn Pflegegeld von der Pflegekasse. Für unseren zweiten Sohn haben wir ebenfalls einen Antrag bei der Pflegekasse gestellt, der sehr wahrscheinlich bewilligt werden wird. Zwei Kinder, beide mit Pflegestufe. So habe ich mir das auch nicht vorgestellt. Früher, als meine Vorstellungen, wie das Leben mit Kindern wohl sein wird, utopisch und realitätsfern waren. Irgendwie hatte ich es ja geahnt, dass es anders kommen wird. Dass Kinder-Haben anders ist als man sich das vorstellt. Ja, es wird wohl anstrengend werden, anstrengender als ich es mir nun noch vorstelle.. Kinder sind anstrengend. So dachte ich.
Der Moment, wo Du den Pflegeantrag ausfüllst, wo Du den Brief der Krankenkasse aufreißt und siehst, dass der etwa 3000€ teure Reha-Stuhl genehmigt wurde, der fühlt sich ganz anders an. Ganz anders als gedacht. Nicht angestrengt. Eher war ich erschrocken. So behindert ist er also. Dass er so einen Spezialstuhl bekommt. Ich hätte gedacht, dass er dafür zu normalentwickelt sei. Ähnliche Gedanken hatte ich auch beim Lesen des Gutachtens des medizinischen Diensts, der zu uns nach Hause kam, um den Pflegebedarf festzustellen. Nicht altersgerecht entwickeltes Sozialverhalten. Erschrocken war ich nicht. Zu lesen, was mir sowieso schon klar war, sollte mir eigentlich Bestätigung geben in meinem Gefühl. Dennoch kommt in mir beim Lesen des Gutachtens, der Arztbriefe und Diagnosen eher ein Gefühl von Das-ist-doch-gar-nicht-so-schlimm-wie-das-hier-steht hoch. Sooo schlimm ist es nun auch nicht, oder doch? Mein Blick mag bestimmt sehr gefärbt sein durch die Alltags-Mama-Brille, da ich meine Kinder ja täglich erlebe und mir so manches Verhalten normaler vorkommt als es ist. Manchmal fällt mir das selber auf, wenn ich ein gleichaltriges Kinder oder sogar ein jüngeres Kind treffe und sehe, was bei diesem Kind gut klappt, welche Herausforderungen es meistert, die bei unseren Kindern noch nicht so gut oder einfach gar nicht klappen. Wie gut, dass es nicht meine Aufgabe ist, einzuschätzen, ob und wie arg mein Kind von der Norm abweicht. Eine Mutter darf die Brille auch mal aufhaben. Die Mama-Brille.
Ob die Pflegestufe und das Geld, das wir dadurch bekommen, die Hilfe, die uns zusteht, berechtigt ist, das stelle ich unbewusst immer wieder in Frage. Fast schon habe ich ein schlechtes Gewissen, einfach so Geld zu bekommen, nur weil meine Kinder behindert sind. Die Dame von der Lebenshilfe fand beruhigende Worte für meine Bedenken. „Sehen Sie das Geld als Ausgleich dafür, dass Sie wöchentlich den Badekampf mit Geschrei und Wutanfall mitmachen, dass Sie täglich aufs Neue erklären müssen, wo Zahnbürste und Handtuch hingehören.“ Ja, das stimmt. Unser Sohn hat eine taktile Wahrnehmungsstörung. Wasser, Hautcreme (er ist Neurodermitiker) und die Beschaffenheit von Handtüchern können ihn zur Weißglut bringen. Leider hat er auch noch Schwierigkeiten mit der Frusttoleranz, eine unglückliche Mischung in der Badesituation.
Zwei Förderkinder zu haben ist beinahe ein Vollzeitjob und für den Aufwand, den wir Eltern dadurch haben, werden wir finanziell entlastet. Dafür ist das Pflegegeld. Es vergeht keine Woche, in der ich keine Termine habe. Termine für Therapien, Arztbesuche, Therapeutengespräche, Kontrolltermine, Termine im Frühförderzentrum, Termine zur Hilfsmittelversorgung, Kliniktermine, wöchentliche Termine zur Gymnastik, Erstvorstellungen, Wiedervorstellungen, Facharzttermine und Termine im Kontaktlinsenlabor. Zeit, in der ich in der Bibliothek lernen könnte oder Sport machen könnte. Doch ich möchte diesen Umstand nicht bejammern oder als furchtbar schrecklich beschreiben, denn so ist es nicht. Fast überall treffen wir auf freundliche, helfende Menschen. Durch meine Kinder und durch ihre Behinderungen habe ich so viel gelernt. Das liest sich nun kitschig, allerdings ist es wahr: Ich kann mich organisieren, dabei bin ich Chaot. Ich kann mich durchbeißen und für die Bedürfnisse meiner Kinder und für meine eigenen Bedürfnisse einstehen, wo ich doch eher so gestrickt bin, klein beizugeben. Ich kann Prioritäten setzen, dabei bin ich doch eigentlich schnell ablenkbar. Ich hinterfrage kritisch, wo ich doch oft recht naiv bin. Dass ich das kann, liegt an meinem Fast-Vollzeitjob als Mutter zweier Förderkinder. In der Schule oder in der Uni habe ich diese Kompetenzen nicht erworben, aber durch meine Kinder schon.
Hallo,
gerade habe ich diesen Text von letztem Jahr auf deinem Blog gefunden und mich sofort zu 100 % darin wiedererkannt…danke dir für diese unverblümten Worte zum Thema Pflegegeld und „Mama-Brille“! Auch ich habe diese des Öfteren auf und bin dann immer wieder verwundert, wie sehr man durch das alltägliche Zusammensein mit dem eigenen behinderten Kind geprägt wird und darüber (zum Glück) auch mal vergisst, wie Außenstehende das Kind sehen und beurteilen!
Liebe Grüße
Judith
LikeLike