Liebe Susi,
Du fragtest, wie ich das sagen kann. Behindert. Ein behindertes Kind.
Ja, das hab ich gesagt. Dass er mit dem Taxibus fährt und wir ihn nicht bringen müssen.
Weil das ja so gehandhabt wird. Mit den behinderten Kindern. Dass die mit dem Taxibus kommen.
Ja, so hab ich das gesagt.
Sieh ihn dir an, dieses Kind. Diesen wunderschönen Jungen. So zart. Ich kenne kein Lachen, das mich je mehr angesteckt hat. Dieser unglaublich große Mund, die Lippen zu einem Lächeln nach oben gezogen. Haben diese Mundwinkel je nach unten gezeigt? Ich glaube nicht. Die Natur hat ihm die Muskeln verwehrt, die die Mundwinkel nach unten zeigen lassen. Nein, diese vollen und roten Lippen in seinem blassen Gesicht. Er ist eine Elfe. So zart. So zerbrechlich.
Diese Haut. Hast Du je seine helle, weiße Haut gesehen? Ein Transparent. Pergament, so nennt man doch die dünnen Tierhäute, die früher genutzt wurden, nicht wahr? Als es noch kein Papier gab.
Pergament. Ja, wenn Du dich je fragtest, woher dieser Begriff kommt, dann streichele diese trockene, dünne, fahle Haut. Oder nicht. Besser nicht. Versteckt ist sie, unter Kleidung. Lange Hosen, lange Pullis. Du hast bestimmt nie mehr als Hände und Gesicht gesehen. Er versteckt sich unter einer Schicht an Kleidung, einer Schicht an Geschichten. Galapagosschildkrötenpanzer-Otzelotfell-Flachmuschel am Strand von Südostasien in unserem Wohnzimmer unter dicken Decken und Kissen und Wäschekörben. Versteckt.
Nein, du wirst ihn nicht berühren können, nicht dieses zerbrechliche Kind und seine dünne Haut. So rau und trocken. Weiß. Fast durchsichtig. Darunter treten sichtbar die Rippen hervor, die Wirbelsäule, Wirbel an Wirbel, eine Perlenkette. Den achso schweren Kopf tragend.
Du kannst sein Gesicht sehen. Diesen roten Mund und diese blauen Strahleaugen. Lange, dunkle Wimpern. Wie können die Wimpern so dunkel sein, wo er doch so blond ist?
Die Augen so klar und offen. So hell. Früher hab ich immer Guck-Kind gesagt. Weil er immer guckte. Er guckte sich alles an. Guckte alle an. Stand am Rand. Die Beobachterposition. Und guckte. Guckte, wie andere spielen. Guckte, wie das geht. Wie spielen geht. Und spielte mit.
Im Kopf. Im Kopf. Ja. Im Geiste. Dort hat er alles gespielt. Dort hat er alles gesehen. Und mitgespielt.
Er guckt immer noch.
Und seine Hände, die kannst Du sehen. Die Hände eines alten Mannes. So faltig, rissig, spröde, die Hände eines Arbeiters. Eingerissene, sich spaltende Nägel, im Nagelbett ein bisschen Dreck. Die Haut an den Fingerkuppen eingerissen und sich pellend. Die Rinde eines alten Baumes.
Das sind keine Komm-ich-nehme-dich-an-die-Hand-Hände. Keine Schönschrift-Hände. Das sind die Hände eines Naturforschers, eines Handwerkers. Werkzeuge, die das ausführen, was der Kopf anordnet. Wasserexperimente. Mit dem Taschenmesser im Wald. Oder im Badezimmer. Pfützen überall. Aufgeschnittene Kastanien. Kisten und Kartons. Auf dem Hochbett. An die Wand gelehnt. Das sind Höhlen. Und Autos. Muscheln. Und Wasserfahrzeuge. Die sehen nur aus wie Kartons.
Steine. Kabel. Aufgebrochene Elektrogeräte. Klebeband und Schnüre. Überall Schnüre. Das ist kein Kinderzimmer. Oben auf den Schränken in Kisten, nie angerührtes Spielzeug. Plastikpferdchen, Puzzle, Autos. Ganz neu.
Auf der Fensterbank Taschenlampen. Glitzerpapier. Eine Sammlung leerer Dosen. So kleine Plastikspender, in denen Stevia-Tabletten drin waren. Diese Dosen mag er. Gefüllt mit kleinen Papierschnipseln. Sorgsam zurechtgeschnitten. Und Perlen. Überall Perlen. Murmeln. Flummis. Bälle. Sie kullern durchs Zimmer. Zwischen Kartonschnipseln und Kabel und Klebeband.
Ein Zimmer wie eine Abstellkammer.
Doch schau genau. Auf winzigen, quadratischen Pappkartons ein Gesicht. Punkt, Punkt, Lachmund. Mit Edding oder Kugelschreiber. Auf den großen Kartons. Winzige Punkte. Punkt, Punkt, Lachmund. Da ist Leben in der Abstellkammer. Karton, dem Leben eingehaucht wird. Kleine Lachmünder. Punkt. Punkt. Lachmund. Mehr nicht.
So leben die still ihr Pappkartondasein in diesem Zimmer.
Zwischen Klebeband-Lianen und Sandbänken aus Wolldecken.
Schau dir doch dieses wunderbare Kind an. Inmitten dieser selbstgeschaffenen Welt. Versunken in einer Kiste, mit dem Taschenmesser Löcher bohrend. Eins neben dem anderen. Er bohrt und bohrt. Sorgsam ein Loch neben dem anderen.
Und kommt aus der Schule. In seiner Hand ein Ding. Ein Ding in Taschentuch gewickelt. Das trägt er vorsichtig zu mir. Die Hand schützend darunter gelegt, ganz samtpfötig schreitet er zu mir. So zerbrechlich, so kostbar, dieses Ding. Ja schau nur, was ich da habe, Mama. Schau nur, das ist so schön. Das hab ich gefunden, auf dem Schulhof. Ganz sachte wickelt er das Taschentuch ab. Und was da in seiner Hand liegt, das ist ein Stück Holz, von einem Türstopper, von so einem Keil.
Ja, schau nur, fühl mal. Die Rillen. Den Finger zärtlich über das Holz fahrend. Oh wie schön. So rillig. So wunderbar fühlt sich das an.
Ein Zauber, der von diesem Kind ausgeht. Du bist ein Wunder, mein Kind. Durch Deine Augen darf ich kurz, ganz kurz, sehen, wie du siehst. Fühlen, wie du fühlst.
Ja, behindert hab ich gesagt. Das hab ich gesagt. Und du gucktest so erschrocken. Wie ich das denn sagen kann. Dabei ist das doch nicht schlimm. Oder doch. Weiß man nicht. Also, ist das nicht irgendwie… Dieses Wort. Behindert.
Meinte letztens die Heilpädagogin, bei dem das kleine Kind Frühförderung hat, sie fände, „behindert“ sei eigentlich ein schönes Wort.
Weil behindert ja bedeutet, dass man durch oder von irgendetwas eingeschränkt wird. Und eigentlich alles in sich trägt. Wie Du und ich und wie dieses Kind. Im Geiste tragen wir all das selbe in uns. Und physisch, dinglich, strukturell gibt es diese Schranke. Dass es doch einen Unterschied gibt. Und dass er guckt. Und im Geiste mitspielt. Und guckt. Und diese Hände hat. Mit denen er Röhren zusammensteckt und Klebeband drumrumwickelt.
Ach, Susi, dich gibt’s doch gar nicht. Ich kenne gar keine Susi. Und doch irgendwie. Ich bin ja selber Susi und erschrecke beim Wort „behindert“. Und das ist eine wahre Behinderung. Dass ich da noch erschrecke. Und die anderen Susis.
Liebe Frau Taugewas! Jetzt muss ich glatt schon wieder kommentieren:-).
Mit dem Wort “ behindert“ ist es wirklich so eine Sache und da hat ja auch kaum jemand die selbe Meinung zu. Besondere Kinder, Kinder mit Handicap, behinderte Kinder, Kinder mit Extra, beeinträchtigt, besonderer
Förderbedarf …was darf man sagen, was soll man sagen , was wird dem Kind gerecht? Ich weiß es nicht und ehrlich gesagt, hab ich noch niemanden gefunden, der eine klare Antwort darauf weiss.
Schwierig, ungerecht und oft einfach die Frage, was man mit einem bestimmten Wort verbindet. Behindert ist leider immer noch oft negativ besetzt. Kinder benutzen es gerne als Schimpfwort, aber ändert dies am Kern etwas daran, was das Wort eigentlich bedeutet? Vermutlich nicht. Ich habe mal gelesen, dass eine Mutter geschrieben hat, dass ihr Kind nicht behindert sei,;sondern die Gesellschaft, die ihr Kind in eine Schublade für Normalität stecken möchte. Dem kann ich selbst nicht so zustimmen. Denn: haben wir nicht fast alle , mehr oder weniger, dass selbe Bild im Kopf, was man als “ normaler, gesunder“ Mensch können sollte, zumindest im groben Rahmen? Ich denke schon. Und dann braucht man vielleicht manchmal ein Wort für die Menschen, die dies eben nicht können, weil etwas – im Kopf oder am Körper, sie daran hindert, sie behindert. Ich finde das Wort deshalb gar nicht schlimm oder erschreckend. Der Weg bis man sagt, dass das eigene Kind behindert ist, das ist das erschreckende. Denn: wenn man ganz ehrlich ist, hat man dem Kind dies eigentlich nicht gewünscht. So toll und einzigartig dieses Kind wie alle anderen Kinder ist, hat man sich doch irgendwo einmal gewünscht, dass es “ normal“ ist ( ich denke, du weisst, wie ich es meine), damit er oder sie es leichter hat ( und man selber manchmal auch).
Aber : auch in diesem Brief finde ich es toll und bezaubernd mit wieviel Liebe, klugem Blick und Verständnis du über deinen Grossen sprichst. Er kann so froh sein in deine Familie hinein geboren worden zu sein und sich entfalten zu dürfen, wie es ihm entspricht.
Ich habe einen Teil deines Briefes gestern, zugegeben mit Tränen in den Augen und Klos im Hals, meinem Mann vorgelesen, weil die Beschreibung seines Zimmers, seiner Tätigkeiten und seiner kostbaren Fundstücke, sooo sehr unserem Grossen entspricht. Ich frage mich,;ob die beiden sich sehr gut verstehen würden oder spinnefeind wären, da in Vielem so ähnlich. Wahrscheinlich berührt mich dein Blog deshalb momentan so sehr und ich hoffe, du fühlst dich durch meine ellenlangen Kommentare nicht verfolgt.:-)
Alles Liebe, Kerstin
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Liebe Kerstin,
nein, ganz im Gegenteil, ich fühl mich keineswegs verfolgt, sondern freue mich!
Wirklich!
Das einzigartige Inselleben teilen nicht viele Menschen. Und dass du dich und deinen Sohn in meinen Texten wiederfindest, bedeutet, du weißt, wie es ist, auf der Insel zu leben.
In meinem Umfeld habe ich auch Menschen, die ebenfalls das Inselleben kennen, aber Austauschbedarf und Mitteilungsbedarf habe ich immer. Sonst würde ich wohl kaum einen kompletten Blog diesem Thema widmen.
Es ist schön, dich zu lesen und es ist schön, dass „da draußen“ noch andere Inseln sind :-)
Dass Du so bewegt bist von meinen Texten, ist ein großes Komplement.
Ich bete und hoffe, mein großes Kind spürt etwas von dem, was ich hier für uns große Menschen in Worte fassen kann. Seine Kommunikation ist ja ganz anders.
Ob unsere Jungs sich verstehen würden? Ich weiß es nicht, wie auch.. Falls Du mal am Rhein entlangkommst, nur zu ;)
Zum Wort „behindert“. Ich las letztens in diesem Blog: http://blog.zeit.de/stufenlos/2015/10/05/mutant-statt-behindert-diskussion-um-die-richtigen-begriffe/
Dort schreibt die Autorin, ihre Querschnittslähmung sei die Beeinträchtigung, die Treppe sei die Behinderung.
Bei körperlichen Beeinträchtigungen schein das logisch. Die Sehschädigung ist die Beeinträchtigung meines kleinen Kindes, die ziemlich kleinen Bilder und dünnen Seiten im Buch sind die Behinderung (für ein befriedigendes Gucken und Lesen/Zuhören).
Bei autistischen Charaktiereigenschaften von Beeinträchtigungen zu sprechen scheint mir fremd.
Etwa: Die Unfähigkeit sozial kompetent zu kommunizieren ist die Beeinträchtigung, der Smalltalk ist die Behinderung?? …das klingt nicht richtig in meinen Ohren.
Kinder/Menschen mit Förderbedarf klingt auch merkwürdig, besonders wenn im Rahmen der Inklusion ein Sonderpädagoge binnen fünf Minuten 20 Mal „Kinder mit besonderem Förderbedarf“ sagt, dann klingt das so umständlich-holperig, ich musste schon mal breit grinsen, meinte es aber nicht böse, er wollte ja politisch korrekt sprechen.
Sprach ich heut mit meinem Mann und sagte, was wär wenn Wissenschaftler eines Tages die Mechanismen finden, mit denen eventuelle Autismus-Genorte „aus-“ oder „angeschaltet“ werden? Ob die betroffenen Personen dann fix ihre Genorte ausschalten und plötzlich mit ihrem Nachbarn ein Schwätzchen halten? Wohl eher nicht. Das wäre ja plötzlich ein anderer Mensch. Und nicht mehr der Mensch, mit den Charakterzügen, die ich so mag. Es ist gut so wie es ist.
Liebe Grüße!
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