Heute möchte ich die virtuellen Vorhänge zur Seite ziehen, für eine Frau, die wie sie selber sagt „schreibt auf Emotion wie andere auf Drogen“. Ich behaupte, sie ist Meisterin im Gute-Laune-Verbreiten. Und sie ist mutig, denn während ich in der Light-Version studiere (in bekannter Stadt und mit Ehemann), ist sie alleine mit den Kindern unterm Arm ans andere Ende Deutschlands gewandert. Um zu studieren. Um ihre Flügel auszubreiten. Und endlich zu fliegen.
…voilà: Nadia Naji
Vor mir auf dem Schreibtisch liegt ein dicker, schwerfälliger Reader über die „Klassiker des Mittelalters“. Rechts daneben stapeln sich scheinbar endlose Lektüren zur Barocklyrik und einigen mehr oder weniger selbstständigen Überlegungen zu der Fragestellung, was denn überhaupt Fiktion sei? Die mysteriöse Zusammenkunft der unterschiedlichen Epochen auf meinem Schreibtisch verdanke ich meinem Germanistikstudium, das zum Glück keine Fiktion mehr ist.
Wirklich motiviert öffne ich, meiner großen gedanklichen Herausforderung bewusst, ehrfürchtig Daniel Kehlmanns Buch Die Vermessung der Welt, durchforste von den verbalen Feinheiten gefesselt, Felicitas Hoppes Roman Hoppe und wühle mich wissbegierig durch Max Frischs Montauk. Immer auf der Suche nach fiktionalen Elementen, werde ich in all den großartigen, sprachlichen Verführungen fündig und fühle mich mit einem Mal derart befriedigt und erfüllt von meiner Suche, dass ich mich in meinem Schreibtischstuhl fast süffisant lächelnd zurücklehne, die Hände hinter dem Kopf verschränke und mich auf Montauks Klippen träume (genauso gut hätte ich mich zu Humboldt in den Amazonas begeben können oder mich nach Kanada zur jugendlichen Hoppe auf die Eisarena im Vorgarten ihrer vermeintlichen Zieheltern begeben können, aber ich fürchte mich in meinem eigentlichen Dasein ganz real vor tropischen Krankheitserregern und kalte Füße kann ich auch nicht ertragen, so dass sich solche Befindlichkeiten leider nicht in meinen Traumsequenzen ausblenden lassen): Also stehe ich jetzt genau dort, wo Lynn und Max sich einander einmal so nah und doch so fremd fühlten und denke: „Himmel was für einen wunderbaren Schachtelsatz habe ich gerade noch an meinem, von Poesie beflügelten Schreibtisch geschrieben? Versteht man mich?“
Frischs gebrochenes Englisch klingt mir noch im Ohr, während der Wind mir, den schon zur Alterung verdammten braunen Lockenschopf zerwühlt (ich bin fast 39), mir neuen Atem schenkt und mich meine gedankliche Freiheit genießen lässt. Ich streife den Schreibtisch ab, an dem ich eben noch saß und sinnierte, lasse den Wind mein Haar zerzausen, wiege mich demütig in seinen Böen, spüre die letzten Sonnenstrahlen auf meiner braunen Haut und lasse alles um mich herum zu, lasse es einfach sein. Am Horizont färbt Sonnenlava ein erzürntes Meer tiefrot, lässt schäumende Gischt an den Klippen zu meinen Füßen aufschlagen. Wirbelt allerlei Meeresgetier umher.
Montauk ist in mir und ich bin in Montauk. Ich bin Montauk, im Hier und Jetzt.
Vor der untergehenden Sonne zeichnet sich ein Segelschiff ab. Vielleicht ist es Humboldt, der nach mir sucht, denke ich noch in meinem Schreibtischsessel am Rande der Klippe. Frischs wunderbar kritisch beäugtes und selbstironisch dahingeschmettertes Englisch mutiert in meinem Kopf. In der Ferne meines Bewusstseins höre ich die zarte, aber vehemente Stimme eines kleinen Mädchens, die überhaupt kein Interesse an Montauk zu zeigen scheint und sich unaufgefordert, autotroph und aus freien Stücken zu mir auf Montauks Klippen wagte, den weiten und beschwerlichen Weg auf sich nahm, um mich auf meinem Klippenstuhl zu besuchen und mir ein Glas Wasser anzubieten.
„Mami, Du musst was trinken. Ich bekomme immer Durst, wenn ich so viel nachdenke und wenn Du mir was vorliest muss ich auch immer was trinken und manchmal muss ich auch auf die Toilette. Musst Du jetzt auch auf die Toilette?“
„Äh, jetzt gerade nicht“, antworte ich schmunzelnd mit dem erzählenden Kind auf meinen Knien, dass mich erklommen hat wie ich die Klippen von Montauk erklommen habe, nur irgendwie etwas tatkräftiger und deutlich lebensnaher.
Ich streiche meiner fünfjährigen Tochter die vom mühseligen Aufstieg zerzausten Haarsträhnen aus dem Gesicht und klemme sie provisorisch hinter ihre Ohren. Sie schaut mich mit ihren Mandelaugen an, blinzelt, legt ihre kleinen Hände um meine vollen Wangen, spitzt ihre Lippen zu einem Kuss und haucht ihn mir auf die, über ihren herrlichen Anblick noch immer schmunzelnden, Lippen.
Montauk zerplatzt wie eine flüchtige Seifenblase. Der zärtlich dahingehauchte Kuss zeigt seine Wirkung. Mein Herz füllt sich mit überschäumender Liebe. Ich höre auf mein Herz, das meinem Kopf die Stirn bietet. Montauk verliert an Wichtigkeit. Ich verbanne es in meine andere Realität. Ich verbanne es dorthin, wo ich sonst lebe. Dort wo ich bin, wenn mein Kind nicht meine Knie erklimmt und mich mit einem Kuss erlöst, ins Diesseits zurückholt, denn eigentlich bewohne ich eine Zwischenwelt. Ich bin eine Pendlerin zwischen den Zeilen meiner Bücher, zwischen den Worten in meinen Geschichten und meinen Kindern, welche mir alles sind, auch dort wo ich sie nicht haben will, weil mich alte und neue Worte fesseln, mich bannen und mir den Weg versperren, den Weg zurück an meinen Schreibtisch.
Meine Kinder, ich habe ihrer zweie, ertragen mich, ertragen meinen Autismus, mich in meinen Büchern aufzulösen und lieben mich gleichsam dafür. Sie leben mit mir. Ich bin ihnen ewig dankbar für ihre Liebe, ihr vollkommenes Verständnis für meine Andersartigkeit.
„Ich hab Dich ausgesucht Mami und wenn ich wieder neu bin suche ich Dich wieder aus“, klingt es synchron, aber nicht chronologisch aus ihren Mündern, denn die „Bergsteigerin“ (Emma) ist fünf und der „Zeitreisende“ (Nemo) ist siebzehn. Mehr als ein Jahrzehnt liegt zwischen meinen Kindern, aber beide sind sich sicher, dass die Frau hinter den Büchern, eine ausgewählte Mutter ist. Was könnte mein Herz glücklicher stimmen, als dieses Geständnis.
Ich wage mich also weiter auf die phantastische Reise, als alleinerziehende Mutter und Studentin, die jene Freiheit zwischen den Zeilen von ihren Kindern geschenkt bekommen hat und sich dankbar vor deren Weisheit verneigt.
„Ohne Euch bin ich Nichts“, schreie ich, noch einmal weggestohlen, von Montauks Klippen in den Sonnenuntergang und wende mich wieder meinen Kindern zu, die wichtiger sind, als imaginäre Klippen aus den Büchern auf meinem Schreibtisch.