Sätze wie Steine

blog41
Eine Anspitzer, handwerkliches Geschick und ein langweiliger Unitag beflügeln das Großkind: Katze auf Banane.

Welcher Mensch würde einer Person mit Krücken sagen, dass sie schneller laufen soll? Welcher Mensch würde einer blinden oder stark sehgeschädigten Person mit Blindenbinde um den Arm sagen, dass sie doch selber den Busfahrplan lesen kann? Welcher Mensch würde einem geistig behinderten Menschen die Hilfe verweigern, wenn er oder sie mit einem Formular nicht zurecht kommt? Das würden wohl sehr wenige tun, denn die allermeisten sind bemüht, ihren Mitmenschen freundlich und verständnisvoll zu begegnen. Zumindest wollen die meisten Menschen nicht respektlos oder diskriminierend handeln. Also lassen wir der alten Dame mit Krücken die Zeit, die sie braucht, um aus dem Bus zu steigen. Wir pampen die blinde Person nicht an, sie könne doch selber den Plan lesen, sondern nennen ihm die Verbindung mit dem Bus. Wir helfen, weil wir verstehen. Und wir verstehen, weil wir sehen. Die wenigsten Menschen verstehen, weil sie selber in einer ähnlichen Situation sind oder waren. Meistens verstehen wir, weil wir die Beeinträchtigung oder Behinderung sehen.

Meinem Sohn sieht man seine Beeinträchtigung nicht an. Er trägt keine Krücken, keine Blindenbinde und von seinem Verhalten kann man in vielen Situationen nicht ableiten, dass er eine – wie in Wikipedia beschrieben – tiefgreifende Entwicklungsstörung hat. Das sehen unsere Mitmenschen nicht. Das kann positiv sein, weil er so nicht direkt in irgendeine Schublade gesteckt wird. Jedenfalls nicht so schnell. Wer unbedingt Leute in Schubladen stecken will, der tut das zur Not auch wegen der Stupsnase oder dem Fleck auf dem Shirt.

Es kann auch negative Auswirkungen haben, eine unsichtbare Beeinträchtigung zu haben. „Du bist doch schon ein großer Junge, da kannst Du auch mal Tschüss sagen!“. Halb vorwurfsvoll, halb abwinkend. So schnell gesagt, die Dame am Empfang der Praxis… – Nein! Nein, das kann er nicht. Einer mit Krücken kann nicht schnell laufen und einer mit ausgeprägten Störungen in der Kommunikation und sozialen Interaktion, der kann nicht „mal eben“ Tschüss sagen. Und mit großer-Junge-sein hat das nichts zu tun. Der mit Krücken muss sich ziemlich anstrengen, halbwegs zügig voranzukommen. Und oft genug bleibt er stehen oder humpelt und schleicht wie eine Schnecke. Auch wenn er vielleicht nicht alt, sondern jung ist. Aber sein Bein ist offenbar nicht ganz fit. Und der mit Autismus, der muss sich ziemlich anstrengen, „Hallo“ und „Tschüss“ zu sagen, dabei auch noch in die Augen zu gucken, den Blick des anderen zu deuten, selber dabei zu lächeln und die Unsicherheit über diese ungewohnte Situation nicht allzu groß werden zu lassen. Und oft genug klappt das nicht, dann sagt er nicht „Tschüss“ oder nuschelt es nur ohne Blickkontakt. Auch wenn er vielleicht einen gesunden Artikulationsapparat hat und groß-genug ist. Aber ein klitzekleiner Teil im Gehirn, der für die soziale Interaktion und die Kommunikation zuständig ist, der ist offenbar nicht ganz fit.

Jedes „Das kannst Du doch, Du bist doch ein großer Junge!“ von einer nicht-wissenden Person dahingesagt ist schlimm. Ja, das ist es wirklich. Keiner würde meinem sichtlich sehgeschädigten Kind ernsthaft vorwerfen, dass es die Glastür doch sehen muss anstatt dagegen zu knallen. Weil man die dicke bifokale Brille und die ausgestreckten Ärmchen, die sich suchend vorantasten gut sehen kann. Aber so so so viele sagen so schnell dahin, irgendwelche „was-man-doch-machen-sollte“-Sätze, die die soziale Konvention betreffen. Man sollte still sitzen können. Man sollte doch mit acht Jahren diesen einfachen Satz lesen können. Du kannst deiner Mama doch mal eben damit helfen! Du kannst doch schon alleine vor der Tür warten. Man sollte als großer Junge doch wissen. Stell dich doch nicht so an…. Nein! Was „man“ kann, das kann noch längst nicht der, mit der klitzekleinen Veränderung im Gehirn. Jeder dieser Sätze ist ein weiteres „Du-bist-nicht-richtig-so-wie-du-bist-und-so-wie-du-dich-verhältst-und-wie-du-fühlst!“ in den Ohren meines Sohnes. Und das ist falsch und schädlich. Und es ist so leicht dahingesagt, weil keiner ahnt, dass er es wirklich nicht kann. Oder nur unter großen Anstrengungen. Wie der mit Krücken und dem Laufen.. Und eigentlich ist es auch schädlich für jedes Kind, ob Autismus oder nicht. Uneigentlich auch. Keiner muss das können, was „man“ können sollte. Keiner soll tun, was „man“ doch tun sollte. Das ist kein Grund, etwas zu sein oder zu tun. Wer oder was bitte ist denn „man“ ?

Jeder dieser Sätze ist ein weiterer Stein, der in den schweren Sack auf den Schultern meines Sohnes geworfen wird. Der Sack, der sein Selbst, sein Selbstbewusstsein, niederdrückt. Für jeden dieser Steine bemühen wir Eltern uns täglich, ein Gegengewicht aufzubauen. Heliumgefüllte Luftballons, die ihm den Sack etwas leichter erscheinen lassen. Wir können diese Steine nicht wegzaubern. Manchmal will ich sie nehmen und denen vor die Füße schmeißen, die sie meinem Sohn in den Sack geschmissen haben. Manchmal will ich sie nehmen und in meinen eigenen Sack stecken, nur damit mein Sohn sie nicht tragen muss. Aber das geht nicht. Er muss es tragen. Der Junge, kaum 24kg schwer, der muss diesen Sack tragen und dieser Junge soll da ankommen, wo „man“ halt ankommen muss, wenn „man“ „etwas“ erreichen will im Leben. Mit Extragepäck.

Mit keinem Satz, den ich sage, kann ich es wieder aufwiegen. Ich will sagen „Du bist gut, so wie Du bist!“, will sagen „Mach Dein Ding, ich glaub an Dich!“, will sagen „Du musst nicht Tschüss sagen, wenn Dir nicht danach ist!“. Aber das sind Worte und Worte kommen nicht gut an. Besser ist vorleben. Selber „Hallo“ und „Tschüss“ sagen. ?. Ja. Ja, das ist gut. Noch besser als Vorleben ist, wenn wir einfach wir sind. Ich kann ihm etliche Male vorleben, wie soziale Konvention im Alltag gelebt wird. Das kann ich. Das tue ich auch sehr oft. Wenn ich jedoch – weil ich durcheinander bin, in Gedanken, das alles geht auch ohne Autismus – selber vergesse zu grüßen, wenn ich einfach unabsichtlich nicht die soziale Konvention einhalte. Nicht still sitzen kann, nicht grüße, ungeduldig bin, gereizt, weil es laut ist, gereizt, weil es menschenvoll ist, wenn ich nicht höflich war, sondern stumm wie ein Fisch der Kassiererin das Geld hingelegt habe, obwohl sie freundlich „Hallo“ zu mir gesagt hat. Wenn ich so bin, wie „man“ nicht sein sollte und mich trotzdem voll okay finde, mich gut finde. Dann, so hoffe ich, lernt mein Sohn, was es wirklich ist, was „man“ tun sollte: Sich selbst lieben und akzeptieren. Sich lieben. Und dann (erst dann!) im Stande sein, mit ebendieser Liebe seinen Mitmenschen zu begegnen. Und an einem schönen Tag einfach „Hallo“ und „Tschüss“ zu sagen. Und zwar, weil er es aus sich heraus und mit Liebe im Herzen tut. Weil er innerlich gestärkt ist. Gestärkt, weil er Liebe und Selbstliebe erfahren hat und erfährt. So gestärkt, dass der blöde Sack auf den Schultern weniger wiegt als seine Liebe zu sich selbst und zu seiner Art zu sein. Dann wird er grüßen. Einfach so.

Und nicht, weil „man“ das eben macht. Nicht, weil Leute Steine und Sätze ihm dahinwerfen. Steine, die ihm keiner hinwerfen würde, sähe man ihm seine Probleme an wie dem Blinden mit der Blindenbinde. Dieser Junge hat es doppelt so schwer, denn er erträgt solche Sätze, durch die er behindert wird, und er räumt sie mit unserer Hilfe aus dem Weg, um ein liebender Erwachsener zu werden, der hoffentlich nie mit Sätzen werfen wird. So, und das macht dieser Junge. Jeden Tag. Und da soll noch einmal Jemand den Stein des Stell-Dich-nicht-so-an werfen!

 

 

2 Gedanken zu “Sätze wie Steine

  1. Kerstin 6. Februar 2016 / 0:41

    Liebe Taugewas!
    Und wieder einmal ein Artikel, der mir aus der Seele spricht: der beim Lesen weh tut, aber auch irgendwo tröstet, weil man mithofft, dass die eigenen Kinder es einmal besser machen werden. Ich wünschte mir, dieser Artikel würde in vielen Zeitschriften veröffentlicht und bei Kinderärzten, in Kindergärten oder an Schulen verteilt. Damit man viel mehr nachdenkt, bevor man spricht und wertet. Denn…ganz ehrlich, ich weiß nicht, ob ich früher besser war.
    LG Kerstin

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  2. Taugewas 9. Februar 2016 / 22:18

    Liebe Kerstin,
    ich bin manchmal auch nicht besser. Es gibt immer Tage, an denen mir ein Satz rausrutscht, von dem ich hinterher oder auch schon direkt beim Blick ins Gesicht meines Kindes merke, wie doof der Satz war. Es geht hier ja auch nicht um schlimme Beleidigungen sondern um *eigentlich* normale Sätze, deren wahre Wirkung einem erst klar wird, wenn einem ein Kind den Spiegel vorhält.
    Und wenn ich ohne mein Gesicht zu verlieren, meinen Satz begradigen kann, dann lernt mein Kind wahrscheinlich mehr davon, als wenn ich eine *perfekte* Mama wäre, der niemals so ein Satz rausrutscht.
    Schlimm finde ich nur, dass – vielleicht auch, weil Kinder oft schlucken und kein Feedback geben – viele Leute gar nicht merken, was sie anstellen mit solchen Sätzen.
    Da müssen wir Eltern dann Vermittler sein… und das schaffe ich manchmal auch nicht…

    Liebe Grüße!

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