Im inklusiven Kindergarten soll das Kleinkind Ergotherapie bekommen. Die Therapeutin und ich sitzen zusammen und reden. Dabei notiert sie sich auf einem Stapel Blätter, Fragebögen, alles wichtige. Das kenne ich. Das erste Mal Fragebögenstapelgespräche gab es 2009 im SPZ mit dem Großkind. Und seitdem immer und immer wieder. Mit Psychologen, Logopäden, Motopäden, Kinderärzten, Neurologen, Pädagogen, Physiotherapeuten, Chiropraktikern, Augenärzten, Chirurgen, Anästhesisten, Heilpädagogen und jetzt eben mit einer Ergotherapeutin. Fast ist es eine schöne Seite am Förderkindermamadasein, denn wann kann man schon mal eine Stunde lang vom eigenen Kind erzählen – von allen Nichtigkeiten, den kleinsten Auffälligkeiten in der Schwangerschaft, der Stuhlkonsistenz und dem ersten Krabbeln, bis zu allen Wichtigkeiten, vom grauen Star, von Herz- und Gehirnauffälligkeiten oder den ersten Schritten – und dann sitzt da tatsächlich ein Mensch vor einem, der sich für all den Kram, den man als stolze und besorgte Mutter loswerden will, interessiert. Der zuhört, nachfragt und alles notiert. Würde die Dame nicht schon das Kleinkind persönlich kennen, so hätte ich mit Sicherheit auch mit Ton- und Bildaufnahmen meiner Brut punkten können, bei dem meine kinderlose Business-Freundin im Café letztens nur ein halb motiviertes „Ach wie süß!“ heraus bekam. Ehrlich gesagt kann ich sie verstehen, denn sofern es nicht meine Kinder oder die Kinder mir nahe stehender Leute sind, interessieren mich Details á la „Nora hat gestern alleine eine Sandburg gebaut, nachts jedoch schlecht geschlafen“ ziemlich wenig, bin mir jedoch fast sicher, andere Leute mit solchen Informationen bestimmt ebenfalls schon bedrängt zu haben.
Jedenfalls führen wir ein Fragebogenstapelgespräch. Damit sie ihn besser kennen lernen und einschätzen kann und damit ich mich schön wichtig fühle mit dem, was ich erzähle. Ein bisschen jedenfalls. Wann er denn laufen konnte. Und ob er alle Materialien anfassen mag. Ob er noch oft fällt beim Laufen. Und ob er gut schläft. Ob er schnell abzulenken ist. Und sprechen? Das ist alles so und so und so. Und Musik mag er. Und Wasser. Das ist gut zu wissen für sie. Und sie hätte ja gehört, er sei ein kleiner Schmusebär. Ja, das ist er! Er geht frei auf andere zu, küsst und umarmt sie. Er mag andere Leute, er ist sehr offen, geht zu jedem hin, ob fremd oder nicht. In der Bahn will er sich einfach zu fremden Leuten setzten. Oft helfen sie ihm, den Sitz rauf zu klettern, bespaßen ihn. Sie lächelt. Und notiert: Distanzlos.
Ja, distanzlos. Welch ein Geschenk, dass einer keine zwischenmenschlichen Grenzen kennt! Keine Angst vor Berührung. Ob das noch so feierlich ist, wenn er mit sechs Jahren auf andere zu rennt und sie umarmen möchte? Das sehe ich dann. Jetzt ist er 2,5 Jahre und jetzt sehe ich, dass es sehr feierlich ist, so zu sein. Genug Mauern wurden für Distanz und Grenzen gebaut. Weshalb einem, der anders empfindet, Steine und Mörtel geben? Er würde wahrscheinlich eine Treppe bauen, um über die Mauern zu gelangen.
Zum Schluss nach viel Gerede, auch abseits des Fragebogens, über die Inselmenschen, die hier leben, eine Frage, die den Blick auf etwas positives lenken soll: Bei welcher gemeinsamen Tätigkeit als Familie wir denn alle Freude hätten. Was uns allen zusammen so richtig Spaß macht. Tja. Ich kann das ja verstehen. Erst redet man übers wackelige Laufen, über Atemschwäche nach der Geburt und komische Genmutationen und andere Dinge, die anders sind als bei anderen, da sollte man am Schluss das Schöne im Blick behalten. Wie der Nachtisch, der nach einem Wirsing-Rosenkohl-Auflauf wartet. Die Therapeutin lächelt. Und ich antworte.
Also, so eigentlich, also so, dass wir alle gleichzeitig bei der selben Tätigkeit, beispielsweise in den Park gehen oder ein Spiel spielen, das wir dabei alle Freude daran haben, ja, also das gibt’s irgendwie nicht. Weil wir so unterschiedlich sind. Das Kleinkind und ich singen gerne, das mag das Großkind nicht. Mit dem fahre ich gerne Rad, das mag der Kleine nicht. Wir Eltern und der Große essen gerne Eis, das mag der Kleine nicht. Der Papa und der Große gucken gerne Wissenssendungen, das klappt nicht mit dem Kleinen. Die Kinder rangeln und raufen sich, das mag ich selber nicht. Der Papa spielt mit dem Kleinen gerne Ball, das funktioniert mit dem Großen nicht gut. Wir sind alle so verschieden, dass wir besser in Einzelsituationen Spaß haben.
Ich dachte mal, dass es das gibt, diese Reisebüro-Werbung-„Happy Family“ mit Eltern, Kindern, Dauergrinsen. Dass das irgendwie so sein muss, wenn man nicht irgendetwas elementar falsch gemacht hat. So, wie doch jede Frau langbeinig und glanzhaarig und jede Wohnung aufgeräumt und hübsch dekoriert sein kann. Wenn man nur will. So hat man dann Spaß zu viert und ignoriert die Realität, in der man schon immer kurze Beine hatte und ein Sofa voller Katzenhaare. Und drei Familienlieblingsmenschen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Aber man lernt ja dazu und benutzt das Gehirn und stellt fest, dass vier Dinge, die völlig verschieden sind, so wie Sonne und Schnee, wie Tag und Nacht, wie das Pfeifen eines Vogels und das Brüllen eines Löwens, wie das Meer und die Wüste, dass diese Dinge zusammen gehören wie die vier Jahreszeiten und die vier Himmelsrichtungen. Es ist jedoch nicht machbar, in alle Richtungen gleichzeitig zu gucken. Es ist jedoch unmöglich, zeitgleich im Badeanzug am Strand zu liegen und dabei einen Schnee-Engel zu malen. Nur nacheinander und jeder für sich ergeben Frühling, Sommer, Herbst und Winter ein Jahr. Nur wer in alle Richtungen blickt, nacheinander, der sieht die vollkommene Schönheit und das Gesamte und der hat die Zeit, die Einzigartigkeit jeder Seite in Ruhe zu betrachten.
Was für schöne Gedanken. Danke dafür!!!😘
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Gerne, das freut mich, dass sie Dir gefallen :)
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Danke für die wunderschöne Sicht der Dinge!
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Danke für Deinen Kommentar :D
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