Wie ich am Montagmorgen mein eigenes Rad stahl und dabei überglücklich wurde.

Ich greife zum Handy und rufe die Polizei an. Nicht die 110, sondern bei der Polizeiwache unseres Stadtteils. Es meldet sich eine Männerstimme. Ich erkläre mich kurz: „Hallo, Frau Taugewas ist mein Name. Ich stehe hier an unserem Bahnhof neben meinem abgeschlossenen Rad. Ich habe den Schlüssel verloren und werde das Schloss jetzt gleich mit einer Eisensäge und einem Bolzenschneider öffnen. Nur, dass sie es wissen. Es ist wirklich mein Rad. Ich habe ein Foto von mir mit dem Rad auf meinem Handy.“ Am anderen Ende schnauft einer schmunzelnd und sagt, dass er es sich notiert. Ich ziehe Arbeitshandschuhe an und hole die Säge aus meinem Rucksack. Passenderweise ist meine Jacke Schwarz, meine Jeans ebenso, sogar die Stiefel. Die Mütze ist grau, trotzdem setze ich sie vorsichtshalber ab. Neben mir laufen Menschen. Sie eilen zum Bahnhof, eilen zum Bus. Es ist Montagvormittag. Eigentlich säße ich nun in einer Vorlesung. Eigentlich. Eigentlich hat das Semester letzte Woche begonnen. War ich in den Vorlesungen? Ich war im Krankenhaus mit dem kleinen Herrn Schnuff. Eine Routineuntersuchung der Augen unter Narkose. Ich saß vor der OP-Tür und hoffte, dass er alles gut übersteht. Dass es ihm gut geht. Ich konnte nichts tun, nur sitzen und hoffen. Alles war gut. Auf dem Heimweg saßen wir in der Bahn und blickten auf die vorüberziehenden Bäume. Ich hatte den Tag drauf die Möglichkeit, zwei Seminare zu besuchen. Mit meinem Großkind. Dann wurde dieses krank und statt in der Uni zu sitzen, lümmelten wir mit den „drei Fragezeichen“ und Milchreis auf der Couch. Studieren mit Kindern ist eine organisatorisch mutige Angelegenheit. Blockseminare am Freitagnachmittag und Samstag sind da nur die Spitze des Eisbergs. Ein Loch in der hinteren Hosentasche, aus dem der Fahrradschlüssel fällt und für immer verloren zu sein scheint, ist ein weiterer Stolperstein.

Was habe ich nicht alles probiert in den vergangenen Tagen! Alle möglichen Schlüssel, die ich über die Jahre angesammelt hatte, in das Schloss gesteckt. Meinen Bruder einberufen, der mit Spanner und Minidietrich am Schloss rumfriemelte. Den Schlüsseldienst bestellt und dann schockiert wieder weggeschickt angesichts des Preises (250 Euro!) und verzweifelt den Radladenmenschen meines Vertrauens mein Leid geklagt. Mein liebes, liebes Fahrrad. „Für 300€ bekommen Sie ein gebrauchtes Rad!“ bot er mir an. Will ich aber nicht. Mein Rad ist keine 250€ wert, das Schloss ist beinahe wertvoller als der Rahmen. Aber es ist mein Rad. Wie ein Freund.  Also verabrede ich mit dem Vertrauensradladenmensch, dass ich irgendwie die Kette durchtrennen muss, um es dann zu seiner Werkstatt zu schleppen, in der er umsonst mit der Flex mein Speichenschloss auftrennt (da habe ich 250€ gespart gegenüber dem Schlüsseldienst) und mir ein neues anbringt.

Jetzt stehe ich hier und spüre die Blicke der Bahnhofseiligen hinter mir. Die Handschuhe und die Säge hingen vor einer Stunde noch im Baumarktregal. Auch der Bolzenschneider. Sie blitzen so frisch, dass sie mich enttarnen. Keine Diebin, mag sie noch so schwarz angezogen sein, sägt um 9:30 Uhr mit blitzesauberen Werkzeug ein olles Rad vom Schloss. „Wenn sie mit einer Handsäge sägen, dann brauchen Sie sicher eine Stunde oder länger!“ höre ich die Stimme des Verkäufers noch in meinem Ohr. Ich setze an. Das gehärtete Metall der Kette lacht mich quietschend aus. Ich will das aber! Jetzt säg, du doofe Säge! Ich suche im Rucksack die größere Metallsäge. Noch ein bisschen auffälliger. Die Kette lacht. Dann säg´ ich eben direkt am Speichenschloss diesen Nüppel da ab, denke ich und quetsche wütend das Sägeblatt zwischen Speichenschloss und Kette, ruckel´ und schiebe wütend hin und her. Fünf Minuten, dann rasselt die Kette hinunter und fällt zu Boden. Mit dem Handy schreibe ich meinem Mann die frohe Botschafft. „Überglücklich?“ fragt er zurück. Ja! Ich packe meine Sachen zusammen, trage Werkzeug, Tasche und Rad mit Kindersitz zur Werkstatt. Es fühlt sich federleicht an. Im Radladen dröhnt die Flex in meinen Ohren. Ich kann nur vor der Türe sitzen und hoffen, dass es ihm gut geht. Dass er das übersteht. Ich kann nur sitzen und hoffen. Alles ist gut. Als ich mich zehn Minuten später auf mein frisch beschlosstes Rad setze, radel ich an den vorüberziehenden Bäumen vorbei. „Mit der Akku-Flex haben Sie das gemacht?“ fragte mich der Radladenmensch. „Nein, mit einer 6€-Handsäge“ antwortete ich. Einfach so. Erstaunlich. Ich musste nur an der richtigen Stelle ansetzen.

8 Gedanken zu “Wie ich am Montagmorgen mein eigenes Rad stahl und dabei überglücklich wurde.

  1. Natalie 26. April 2017 / 0:20

    Ja, die Frau Taugewas weiß sich zu helfen, sitze hier gerade mit einem sehr breiten Grinsen.
    Vielleicht hätte ich dich zu Rate ziehen sollen, als ich letztes Jahr für 280 Euro das Kleinkind aus dem Badezimmer befreien ließ ;)

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    • Frau Taugewas 19. Mai 2017 / 11:08

      Uiuiui, Natalie, das war bestimmt keine schöne Situation – Kind im Badezimmer eingesperrt.. Meine Horrorvorstellung. Zum Glück kann unser Kleiner keine Schlüssel umdrehen.
      Liebe Grüße!

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  2. Jana 3. Mai 2017 / 22:09

    Jetzt ist klar, warum ich nichts höre. Du solltest ein Buch schreiben- einfach unglaublich toll zu lesen!!!

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    • Frau Taugewas 19. Mai 2017 / 11:09

      Ach, Jana, Du Liebe!! Ich habe Dich nicht vergessen – und melde mich auch sofort bei Dir!!!!! :) Eine Hand ist schon am Mailschreiben :)

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  3. Natalie 4. Mai 2017 / 15:28

    Ja, das Buch würde ich auch kaufen!

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    • Frau Taugewas 19. Mai 2017 / 11:10

      Danke Euch, was für ein Kompliment. Irgendwie tauge ich nur zu kurzen Texten, ein Buch ist so furchteinflößend…;-P

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      • Anja 21. Februar 2018 / 13:57

        Dann eine Sammlung von Kurzgeschichten. Ein kleines, feines und schlankes Büchlein.

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  4. Natalie 1. Juni 2017 / 23:25

    Ganz egrlichen Herzens kann ich die Veröffentlichung eines Buchs UND zwei spezielle Kinder auch nicht empfehlen. Der Tag hat einfach nur 24 Stunden.

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