Vor einiger Zeit habe ich in einer Elternzeitschrift einen Artikel gelesen. Eine Mutter berichtete über das Leid, das sie trägt und erträgt, denn ihre Tochter ist krank. Sie hat Diabetes Typ 1 seit Geburt.
Ich habe den Artikel nur zur Hälfte gelesen und überflogen, denn das Kind, das ich mir vor den Bauch gebunden hatte, wurde wach und soweit ich mich erinnere, saß ich in irgendeinem Wartezimmer und wurde dann auch bald aufgerufen.
Trotzdem ließ mich der Artikel nicht los. Mein erster Gedanke war, das gebe ich zu und schäme mich im selben Augenblick: „Ach! Diabetes! Das haben doch wirklich viele. Der S. hat doch auch Diabetes Typ 1. Da muss man halt auf die Ernährung achten und ab und an den Blutzuckerspiegel messen. Das schlimmste ist wohl, sich zu überwinden und die Insulinspritze anzusetzen. Beim eigenen Kind. Aber…ach! Da gibt es doch schlimmeres! SO ein großes Leid kann das ja nicht sein. Dafür hätte es jetzt keinen langen Artikel gebraucht.“
Manchmal bedarf es einige Nächte Schlaf und ein reflektiertes Gespräch mit einer anderen Person. Und ab und zu ist es auch nötig, selber in der Situation zu sein. Einige Tage später erinnerte ich mich nämlich an ein paar Begegnungen: Ich treffe ab und an ältere Leute und ab und an kommen wir ins Gespräch. Wenn ich erzähle, dass mein Kind unter anderem den grauen Star hat, dann schauen viele ungläubig und können sich nicht vorstellen, dass soooo kleine Kinder schon den grauen Star haben. Oftmals erzähle ich von den OPs oder den Kontaktlinsen, oft habe ich ein wirklich nettes Gespräch. Ebenso sagten mir aber einige Leute auch „Ach! Den grauen Star! Das ist ja nicht schlimm! Den hab ich auch und ratzfatz war der wegoperiert und nun sehe ich wieder klar!“.
Einmal sah ich wohl ziemlich fertig aus. Da sah mich eine ältere Dame an und sagte: „Aber für die Mutti ist es schlimm, nicht wahr?“
Das hat sie bestimmt als Trost gemeint, aber ich fühlte mich sehr unverstanden. Es ist schlimm. Nicht nur für die Mutti. Es ist für die ganze Familie schlimm. Es ist nicht ratzfatz weg. Und das Kind sieht auch nicht klar. Denn: grauer Star bei einem alten Menschen, der jahrelang gut gesehen hat, der weiß, wie ein Baum und ein Hund aussieht, der weiß, wie tief die Treppe in den Keller runtergeht und wie weit weg ein Meter sein kann, dieser graue Star ist nicht der graue Star eines kleinen Kindes, das sich nie ein klares Bild von einem Baum und einem Hund einprägen konnte, das das Sehen erst lernen muss und trotz künstlichen Linsen nicht wirklich klar und scharf sehen kann. Und es ist nicht normal, dass kleine Kinder grauen Star haben und kleine Kinder gewöhnen sich nicht schnell an Kontaktlinsen und Brille und Augenpflaster. Und ganz oft steht eine Stoffwechselerkrankung dahinter, die nicht nur zu der Trübung der Linse führt, sondern auch andere Sorgen mit sich bringt. Und ständige Therapien und Untersuchungen und Operationen in der Klinik, in der Sehschule und Förderzentren, die sind anstrengend. Ein Kind mit Kontaktlinsen ständig kontrollieren zu müssen und eine Helikopter-Mutter sein zu müssen, die immer und überall den Sitz der Kontaktlinsen und der Brille überwacht, das ist nicht das, was ich mir wünsche. Aber wir sind hier nicht bei Wünsch-Dir-Was.
Jetzt denke ich wieder an den Artikel über die Mutter mit dem Diabetes-Kind. Ich schäme mich. Solange man selber nicht in der Situation ist, sollte man aufhören, zu urteilen und es besser zu wissen. Es gibt einige Menschen mit Altersdiabetes und altersbedingten grauen Star, die gut mit diesen Erkrankungen klar kommen. Das ist toll, dass das bei denen gut klappt. Es gibt bestimmt irgendwo auch Familien mit jungen Kindern und diesen Erkrankungen, die gut damit klar kommen. Und das ist ebenso toll. Und es gibt Eltern von Kindern mit angeborenem Diabetes Typ 1 und angeborenen grauem Star, bei denen es furchtbar anstrengend ist.
Ich möchte in Zukunft nicht mehr schnell vor-urteilen. Egal wie klein oder unbedeutend eine Sorge für mich erscheint: Für eine andere Person kann es wirklich schlimm sein. Nicht nur für die Mutti.
Hallo!
Bin jetzt erst durch Sonea auf deinen Blog gestoßen und deswegen stelle ich jetzt evtl eine Frage, die du schon 1000 Mal beantwortet hast…warum kann denn dein Kleiner nicht operiert werden? Geht das nicht bei Kleinkindern oder müsste er dann mehrere Mal operiert werden? Hoffe, die Frage nervt dich nicht….Zu deinem Post: ist es nicht immer so, dass man eigentlich nur über das Urteilen kann, was auch in der eigenen Lebenswelt stattfindet?
Wenn ich mit Leuten rede, die sich ungemein für die Erforschung einer bestimmten Krankheit einsetzen, da ihr eigenes Kind betroffen ist…kann ich das verstehen und bewundern. Was mich aber immer ärgert, ist, die Erwartungshaltung, dass jetzt bitte alle Anderen bzgl. des Themas genauso informiert und engagiert sind wie sie. Die selben Leute, die vor der Geburt ihres Kindes genauso wenig Ahnung davon hatten und vermutlich auch wenig Interesse an diesem Thema. Man kann sich nun mal nicht mit jedem Problem, jeder Krankheit und jedem Schicksal befassen…leider, auch wenn es sehr oft wünschenswert wäre.
Deswegen passiert es jedem, dass man Probleme Anderer aus der eigenen Perspektive bewertet..und gerade in deinem Fall finde ich, dass es dich ehrt überhaupt so lange darüber nachzudenken.
Es ist eben wie es ist.
Zitat Ally McBeal ( kennt das noch jemand ausser mir alter Schachtel:-)):
“ Warum weinst du so sehr über deine Probleme?“
„…weil es die Meinen sind.“
LG und ich komme wieder, Kerstin
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Hallo Kerstin,
Deine Frage nervt nicht.
Es gibt die Möglichkeit, eine Kunstlinse (IOS) in das Auge
einzusetzen. Das ist die Regel bei Erwachsenen und auch in
Entwicklungsländern wird das so gehandhabt.
Die bestmöglichsten Ergebnisse in der Sehleistung (und
ein Kind erlernt das Sehen ja in den ersten sechs Jahren etwa)
erreicht man jedoch mit Kontaktlinsen, da das Auge eines Babys
und Kleinkindes schnell wächst. Etwa alle vier Wochen werden die
Kontaktlinsen angepasst.
In Fällen, wo es mit der Kontaktlinse nicht klappt,
kann auch eine IOS eingesetzt werden, wobei das auch Nachteile hat.
Z.B. erhöht jede OP das Risiko, an Glaukom zu erkranken,
zudem muss die Brechung, da es eine Erwachsenenlinse ist,
durch die Brille ausgeglichen werden und diese muss ständig
an das wachsende Auge angepasst werden.
Es ist also eine Abwägung, ob Kontaktlinse oder IOS.
…sensibles Thema gerade bei mir, da mein Kind am linken Auge nächste Woche
operiert werden soll wegen einer IOS, nun aber die OP evtl. abgesagt wird…
Naja… Ich will nicht abschweifen!
Die Erkenntnis, nur über das urteilen zu können,
mit dem man selber Erfahrungen gemacht hat, ist wirklich uralt.
Doch selbst wenn man diese Weisheit schon hundert Mal gehört
und auf Omas Küchenkalender gelesen hat, so ist es ein
ganz anderer Aha-Effekt, wenn man sich diese Erkenntnis durch
Begegnungen wie die meinen direkt vor Augen führt und
erst dann internalisiert man den wahren Kern. Jedenfalls geht es mir so.
Witzigerweise habe ich noch einen bislang unveröffentlichten
Artikel über meine frühere Haltung gegenüber des Themas „Linse“,
das mich seit der Erkrankung meines Kindes täglich verfolgt.
Ich hatte nämlich keine Ahnung davon früher.
Daran mag ich mich erinnern, um eben eine solche Erwartungshaltung
anderen gegenüber nicht einzunehmen.
Das gelingt mir auch meistens, meine ich zumindest.
Ally McBeal kenne ich nicht, aber der Spruch gefällt mir.
Liebe Grüße :-)
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