Die Insel soll Ruhe geben und tut es doch nicht. Hämmern und pochen. Einer, der ununterbrochen Löcher in eine Pappe sticht. Und mit dem Schraubendreher Löcher bohrt. In alte, dicke Pappe.
Ein anderer, der schreit. Seinen Kopf wieder und wieder und immer wieder gegen die Lehne des Therapiestuhles hämmert. Dabei wandert der Stuhl jedes mal ein kleines Stückchen nach vorne. Ich lege eine Kirschtomate vor ihm hin. Mit schnellen, ungeschickten Händen baggert er sie auf und stopft sie in den Mund. Einen kurzen Augenblick Ruhe. Dann: Geschrei. Mit halbzerkauter Tomate im Mund. Mmmeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeee!!!!!! Wenn es klappt, dann heißt das „mehr“. Oder einfach nur Eeeeeeeeeeeeehhhhhhhhhhhh!!!! Noch eine Tomate. Kurz Ruhe. Und ein bisschen Tomateninnerei überall. Dann immer so weiter. Wenn es klappt, dann sage ich geduldig mit jeder Tomate: „Du willst noch eine Tomate essen, ja? Bitte, hier ist noch eine!“ und habe noch einen Tomatenkern Hoffnung, dass es klappt mit dem Nichtschreien und dem „Tomate“-Sagen und überhaupt mit den Sitten, die man sich so ausdenkt, wenn man zu viel Zeit hat. Wenn es nicht klappt, dann schiebe ich schweigend drei Tomaten auf einmal zu ihm hin, um länger Ruhe zu haben, trinke einen Schluck Tee, sehe dann zwei der drei Tomaten durch die Küche fliegen und sammel sie auf. Immer nur eine geben. Wie konnte ich das vergessen.
250 Gramm Tomaten später ist die Schachtel leer. Eeeeeehhhhhhhhh!!!!!!!!! Ich biete etwas anderes an. Obst. Gurke. Käse. Früchtetee. Verzweifelterweise auch Salzstangen und Kekse. Nichts klappt. Geschrei und ruckartiges Gehampel. Der Kopf ist rot. Hämmert immer wieder gegen die Stuhllehne. Ein bisschen Tomate im Haar vom Haareraufen. Dazu als Hintergrundmelodie ein bisschen Monolog vom Katzenkind. Ich glaube, es geht um enzymatische Spaltung, aber ich höre es nur bruchstückweise. Denn der auf dem Stuhl bekommt fast Atemnot vor lauter Schreien. Am besten muss es klein und rundlich sein. Trauben, Dosenmais und Kirschtomaten. Es gehen auch gekochte Nudeln, in Stücke geschnittene Erdbeeren und Tomaten und manchmal auch Gurken oder Banane, aber diese nur umgedreht und mit herzhaftem Biss in die Schale. Das Mondkind. Es beißt auch gerne in Schuhsohlen, Isomatten und Menschenhaut. Es muss eben bananenschalenartig sein, dann ist es gut.
Bei der Logopädie, die zeitgleich auch Physiotherapie ist, beißt er gerne in die Turnmatten. Die Therapeutin ruft ihn beim Namen. Er steht an der Matte, die das Regal verdeckt, damit er es nicht ausräumen kann. Man kennt ihn hier. Er hört nicht. Sie hat einen großen Spiegel, damit er sich und seinen Mund sehen kann. Er guckt nicht rein. Sie hat Brause. Er läuft lieber an der Heizung entlang. So geht es zehn Minuten. Wir rufen, klopfen auf den Spiegel, ermuntern, preisen die Brause an. Er spielt mit unseren Schuhen in der Ecke. Zieht sich die Brille aus und klopft damit auf den Boden. Er dreht an den Rollen an der Rollen-Rutsche. Kurz läuft er zum Spiegel, auf den ich mit meinen Fingernägeln trommel. Kurz guckt er sich an. „Wo ist denn Deine Zunge?“ fragt die Therapeutin. Es ist ihm sehr egal. Er reißt kleine Kärtchen vom Spiegel. Kleine Zettel, die oben am Spiegel kleben. Giraffengesichter, die Grimassen machen. Sie rettet ein paar der Zettelchen und bietet ihm Brause an.
Er läuft hinter mich und beißt mir in den Nacken. Distanzlos. Versteht unsere Aufforderungen nicht. Hat kein Interesse an angeleitetem Spiel. Mein so gesundgewünschter Mondling ist vom Mond, nicht krank. Dann blitzt es mir durch den Kopf: Was, wenn er autistisch ist? Nein. Nein. Er ist so anders als die Katze. Ist musikalisch, ist so körperlich, so angstlos, so rastlos. Ganz anders. Wie Feuer und Wasser. Aber auch anders, als normal („Momal“ in Katzensprache). Wedelt stereotyp mit seinen Händen. Spielt seit Monaten das selbe rein-raus-Spiel. Spricht nicht. Hat eine andere Wahrnehmungsverarbeitung. Ist das wegen der Mondlingkeit oder doch… Blitz. Blitz. Wie gut, dass Blitze so schnell und kurz sind. Kaum gesehen sind, sie schon weg. Und dann warten. Auf den Donner. Ob der kommt? Donnerdiagnosen. Stellt man bei Autismus ja sowieso meistens erst ab vier Jahren.
Zuhause räumt er Kisten aus. Rein und raus. Krach muss es machen. Marmeladengläserdeckel sind gut. Der andere bohrt Löcher. In letzter Zeit wieder mehr. Weil er Stress hat. Bei Stress gibt’s immer mehr Löcher. Und schreibt Wörter (juhu!), aber ohne eine Lücke dazwischen zu lassen. WiealsobdazukeinPlatzsei. Vielleichtweilessoinihmaussieht. Zumindest. Die. Löcher. In. Der. Pappe. Sind. Mit. Akuratem. Abstand. Nebeneinander.
Bonusmaterial ;) Aus dem Wörterbuch des Achtjährigen:
Momal – Normal
Tropjen – Trotzdem
Ödewie – Irgendwie
Redefalls – Jedenfalls
Karolin – Kalorien
Espilit – Explizit
Tomatenschlinger, Kopfschläger, Brillenklopfer, Turnmattenbiber, Kreischhälse, Krachliebhaber, Musikliebhaber…
Seelenverwandte? Immer mehr glaube ich, dass unsere beiden kleinen Weltenreisenden sich – bei aller Verschiedenheit — Anfang 2014 beim Anflug auf die Erde kennengelernt haben ;)
Mein großes Mädchen,das stak entwicklungsverzögert ist, legte auch imer wieder „autistisch“ wirkende Verhaltensweisen an den Tag, ist sie aber nicht. Sie schottet sich ab, wenn es ihr zuviel ist, greift auf vertraute Handlungweisen zurück, wenn sie überfordert ist.Sie lernte etwa mit dreieinhalb sprechen, ihr haben Gesten und Gebärden sehr geholfen. Kann dein Zwerg die erkennen?
Liebe Grüße
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