Meine beiden Kinder gehen zur Logopädie. Beide tun das aus ganz unterschiedlichen Gründen, doch beide Kinder sind in ihrer Sprachentwicklung behindert. Das bedeutet nicht, dass sie nicht wissen, wie man spricht oder dass sie nicht richtig zuhören, wenn ich spreche. Sprache und Spracherwerb ist sehr kompliziert. Hier ein Versuch, das zu erklären.
Der Sprachpsychologe Karl Bühler hat ein Modell entwickelt, um die Funktion von Sprache darzustellen. Das Modell hat den Namen „Organon-Modell“, nach dem griechischem Wort „organon“ (Werkzeug), da Sprache ein Werkzeug zur Kommunikation ist.
Das sprachliche Zeichen hat laut Bühler drei Funktionen.
Es hat Ausdrucksfunktion und dient zum Ausdruck von Gedanken des Senders.
Es hat Appellfunktion und richtet sich an einen Empfänger.
Es hat Darstellungsfunktion und bezieht sich auf Gegenstände und Sachverhalte in der Welt.
Ein Beispiel: Wenn ich meinem Kind sage „Guck mal, die Katze!“, dann drücke ich damit meinen Gedanken aus: Ich sehe dort eine Katze. Gleichzeitig sende ich damit ein „Signal“, einen Appell: Dreh´ Deinen Kopf in die selbe Richtung wie ich, damit Du auch die Katze siehst!“. Damit wir uns überhaupt verstehen, nutze ich die Sprache und dabei hilft ihre Symbolfunktion. Wir beide wissen, welcher „Gegenstand“ für das Lexem „Katze“ steht, weil wir beide die selbe Sprache sprechen.
Wenn man die Sprachentwicklung von Kindern betrachtet, ist die Dreiecksbeziehung der Sprache und ihre Funktion als Kommunikationsmittel von großer Wichtigkeit. Zudem spielt jede einzelne der drei Funktionen des „Werkzeugs“ Sprache ebenso eine große Rolle. Die Logopädin Barbara Zollinger beschreibt in ihrem Buch zwei Voraussetzungen für die „Entdeckung der Sprache“. 1. Die Möglichkeit, sich etwas nicht Vorhandenes vorzustellen. 2. Der Anspruch, dem „Du“ etwas zu erzählen, mit dem Wissen, dass diese andere Person nicht unbedingt das Gleiche denkt wie ich ( hier fällt mir die Theory of Mind ein, auch sehr interessant!). Die Dreiecksbeziehung zwischen Sprecher, Empfänger und Gegenstand und die gemeinsame Aufmerksamkeit auf den Gegenstand (oder auch Thema) nennt sie den „Triangulären Blick“.
Innerhalb der Sprachentwicklung lernt das Kind, „Dinge“ (Sachverhalte, Themen, Gegenstände) mit den sprachlichen Symbolen (Wörter) und den Personen zu verknüpfen. Das tut es mit Hilfe der Sprache.
Sprache bedeutet demnach nicht, bloß Laute zu Wörter zu artikulieren. Erst wenn durch den Laut ein Bezug zu etwas Außersprachlichem hergestellt wird (in meinem Beispiel die Katze), kann von einem Kommunikationsakt gesprochen werden. Zuvor ist es reine Artikulation.
Wir Menschen beziehen uns mit Hilfe von Zeichen und Symbolen auf eine außersprachliche Realität. Ich kann von meinem Kind schreiben, auch ohne das ihr es sehen und anfassen (be-greifen) könnt. Das funktioniert, weil wir eine gemeinsame Vorstellung von dem Begriff „Kind“ haben und ihr wisst, dass ich diesen kleinen Menschen, der einst aus mir selbst schlüpfte, meine. Und so verhält es sich mit beinahe allen Wörtern unserer Sprache, sogar mit Wortneuschöpfungen, wie Kinderdrecksgeschrei (erst gestern gehört von einem Telefonierenden, der seinem Gesprächspartner einen Grund für seine auditiven und akustischen Probleme liefern wollte und wohl nicht wusste, dass es Mondlingsgeschrei ist ;-) ).
Das „Semiotische Dreieck“ von Ogden/Richards stellt den Aspekt der sprachliche Zeichen mit Bezug auf außersprachliche Realität visuell dar.
In der Grafik assoziiert der Hörer den Ausdruck „Baum“ mit einem Laubbaum (was sehr häufig vorkommt in Mitteleuropa. Ein Mensch aus Südamerika wird möglicherweise eine andere Art von Baum assoziieren). Er hat also ein Konzept für sich entwickelt, welches er in seinem Gedächtnis abrufen kann, wenn er den Begriff „Baum“ hört. Der Sprecher meint in diesem Fall jedoch einen Nadelbaum (Bezugsobjekt). Der Hörer versteht dennoch, was ihm der Sprecher sagen möchte, weil er sich im Zuge seiner Sprachentwicklung aktiv mit dem Begriff „Baum“ auseinander gesetzt hat und in dem Nadelbaum auch einen Baum erkennt.
Damit ein Kind ein Konzept für den Ausdruck „Baum“ entwickeln kann, reicht es nicht aus, das Wort mit dem Gegenstand (in diesem Falle mit einem Baum) zu verknüpfen. Das wäre eine Reduzierung der Bedeutung von dem Wort auf das Bezugsobjekt. Erst durch die vielfältige Beschäftigung mit dem Gegenstand (durch das Anfassen und Angucken von verschiedenen Bäumen, durch unterschiedliche Bezugsobjekte zu dem Begriff „Baum“, durch Sprech- und Kommunikationsakte) erlernt es ein Konzept zu dem Ausdruck, welches es erst verstehen und später aktiv in einer Sprechsituation anwenden kann.
Kinder, die sich gerade in dieser Entwicklungsphase befinden und versuchen, Konzepte und gemeinsame Bezugspunkte für bestimmte Dinge in der Welt zu finden, identifizieren manchmal langhaarige Männer als „Frauen“ oder alles, was Räder hat als „Autos“. Das deutet darauf hin, dass das Kind beginnt, Konzepte für Begriffe zu entwickeln.
Ab dem Zeitpunkt, an dem ein Kind an frühere Ereignisse oder an aktuell nicht präsente Gegenstände oder Situationen denkt, benötigt es ein System, um sich ausdrücken zu können und mit seinem Gegenüber interagieren zu können. Dieses System ist in der Regel die Lautsprache.
Häufig ist bei Kindern mit Wahrnehmungsstörungen oder Autismus ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Gegenstand gerichtet, es fehlt der Trianguläre Blick. Dadurch ist es für sie schwieriger, ein Konzept für bestimmte Ausdrücke zu entwickeln. Die aktive Auseinandersetzung mit der Sprache wird behindert, das Kind hat Schwierigkeiten mit dem Sprachverständnis (gleichzeitig kann ich bei meinem Sohn beobachten, dass er seine Konzepte sehr stark objektbezogen aufbaut. Bitte ich ihn z.B. in der Küche mit durch Obst verschmierten Händen um ein Tuch, wird er mir ein Küchenhandtuch reichen, sehr wahrscheinlich jedoch kein Küchenkrepp!).
Es ist nachvollziehbar, dass solche Kinder Schwierigkeiten haben, Konzepte für abstrakte Dinge wie Gefühlszustände anderer Personen zu entwickeln. Ebenso verhält es sich mit der Differenzierung zwischen abstrakten, aber dennoch real vorhandenen Dingen und Wünschen oder Träumen.
Wenn ein Kind keinen (oder nur einen gering ausgeprägten) Bezug zwischen den Dingen und den Personen in der Welt aufbauen kann (durch einen Mangel am Triangulären Blick) und gleichzeitig in seiner Ausdrucksmöglichkeit eingeschränkt ist (evtl. durch Schwierigkeiten mit der Artikulation) wird es nicht in der vollen Breite erfahren, was es mit Sprache bewirken kann und was es bei seinem Gegenüber erreichen kann.
Ihm fehlt der Zugang zur Sprache und somit auch der Zugang (der „Schlüssel“) zur Kommunikation und Interaktion. Die Folgen können unter anderem sein, dass es Probleme in sozialen Situationen hat, dass es intellektuell unterschätzt wird, weil seine Ausdrucksweise und das Sprachverständnis nicht altersgerecht entwickelt ist oder dass ihm unterstellt wird, kein Interesse an dem Gegenüber zu haben. Probleme können auch in der Schule auftreten durch Aufmerksamkeitsstörungen (infolge des unzureichend entwickelten Sprachverständnisses) oder schwache Leitungen in allen Fächern, in denen Sprache notwendig ist (nicht nur Deutsch, sondern auch Mathe, Musik, naturwissenschaftliche Fächer).
Auch sprachentwicklungsverzögerte Kinder ohne Autismus, können diese Schwierigkeiten haben. Die wahre Entdeckung der Sprache ist die Erkenntnis, dass die gesprochenen Wörter verstanden werden (Zollinger). Ein Kind, das diese Erfahrung nicht oder unzureichend machen kann, erlebt vermehrt Frustration, es wird unfreiwillig isoliert.
In der Vergangenheit habe ich mir diese Situation vorgestellt wie ein Urlaub in China, bei dem mir einfach die Wörter fehlen, um mich auszudrücken. Diese Vorstellung ist jedoch falsch. Als erwachsene Person mit einem gut entwickeltem Sprachkonzept, ist mir die Bedeutung der Wörter klar und zumindest im Deutschen kenne ich auch ihre Begriffe. Im Chinesischen fehlen mir zwar die Begriffe – die Bedeutung ist jedoch immer noch da und ich erkenne auch in China einen Baum. Zur Not kann ich Hände und Füße nutzen, um meinem chinesischem Gegenüber zu erklären, was ich meine.
Ein Kind, das im Spracherwerb behindert ist, kann nur unzureichend eigene Konzepte entwickeln. Es möchte sich ausdrücken, doch weiß es nicht, was es genau sagen möchte. Es versteht das System Sprache nicht und weiß nicht, wie es dieses System richtig anwenden kann.
Vielleicht liegt´s aber auch am System.
Reiner Maria Rilke
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren:
Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Weiterführende Literatur: Barbara Zollinger: „Die Entdeckung der Sprache“; Paschke-Müller/Biscaldi et al. „TOMTASS – Theory-of-Mind-Training bei Autismusspektrumstörungen“.
Danke für diesen interessanten Beitrag!
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Danke Dir für Deinen netten Kommentar :)
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Liebe Frau Taugewas!
Ein sehr interessanter Artikel, der in meinem Kopf noch das eine oder andere Mal „klick“ gemacht hat.
Mein Grosser ist auch bei der Logopädie, allerdings vorrangig weil er tatsächlich ein Problem bei der Artikulation hat ( ua durch ein verkürztes Zungenbändchen und eine ziemliche Baustelle im Mund…frag nicht). Und obwohl sein Sprachempfinden eigentlich ein sehr Gutes ist, hat auch er Probleme damit Empfindungen richtig auszudrücken und zu erkennen. Dadurch ist es auch für ihn oft schwierig adequat zu reagieren und vorallem sich auch mal zu verteidigen. Momentan erledigt das oft sein kleiner Bruder für ihn.
Generell finde ich aber den Umgang von Kindern mit Sprache , was ja für sie- je nach Alter- Neuland ist, faszinierend. Sie sind einerseits sehr viel offener, andererseits durch fehlende Begrifflichkeiten ei geschränkter, was sie aber oft sehr gut umschiffen können.
Beide meiner Jungs benutzen Phantasiesprache und Eigenkreationen für Dibge, die wichtig für sie sind. Und nein Kleiner schafft es immer wieder mich zu erstaunen. Zb ist eine gute Freundin von mir Slovakin, die mitunter mit ihren Kindern auch slowakisch spricht wenn wir dabei sind. Der Sohn, der im Alter meines Kleinen ist, spricht zwar auch deutsch, aber vermischt es natürlich auch mit slowakischen Begriffen. Wenn wir nun einen ganzen Nachmittag da sind, beginnt mein Kleiner regelmäßig damit auch slowakische Begriffe, die häufig fallen , zu benutzen und scheint zu verstehen. Im übrigen spricht er, laut meiner Freundin, akzentfrei:-). Es ist dort,so denke ich, einfach noch so, daß die Grenzen noch offener sind und er nicht über deutsch oder slowakisch nachdenkt. Wenn “ komm her!“ bewirkt das jemand mitkommt, warum soll es dann nicht das Wort „sem!“ genauso bewirken?
Für meinen Grossen wiederum fungieren seine 2 Freunde, die er beide schon quasi seit der Geburt kennt, als Sprachrohr. Sie kennen ihn so gut,dass sie ihn meist sehr gut verstehen und für ihn oft eine Erklärung von Stimmungen mutluefern,;die er wiederum oft besser verstehen kann wie meine theoretischen Erklärungen. Oft ist Sprache eben auch Sache des Gefühls und des Vertrauens: in sich und in Andere.
LG Kerstin
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Liebe Kerstin,
das ist ja total cool mit den slowakischen Begriffen, die Dein Kleinder im Spiel in seine aktive Sprache übernimmt. Kinder sind wirklich noch absolut unvoreingenommen und (über-)nehmen einfach „was kommt“. Und wirklich toll, dass Dein Großer solche Freunde hat, die ihn verstehen und sogar helfen, sich auszudrücken und verständlich zu machen – das ist Gold wert!!!
Liebe Grüße :)
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Ich habe sehr viel gelernt beim Lesen, sehr anschaulich erklärt. Und der Klammerteil nach Kinderdrecksgeschrei ist einfach nur genial :)
LG Bruder
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:-) Ich freue mich, dass es überhaupt einige geschafft haben, diesen langen Beitrag bis zum Ende zu lesen ;)
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