Das Liebekraftwerk

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Auf dem Weg zur Tagesmutter begleitet mich in den Ferien das Großkind. Ununterbrochen redet er auf mich ein, wobei es ihm nicht auffällt, wenn meine Gedanken woanders sind und nicht eine knappe Stunde bei den von ihm referierten naturwissenschaftlichen Phänomenen. Eigentlich denkt er einfach nur laut. Wie in eine Radiosendung schalte ich mich ab und an ein. Einige Meter vor mir im Kreis laufend vor sich hin sprechend ist der Empfang sowieso nicht so gut. Das wichtigste bekomme ich trotzdem mit: „Mama“, das Kind dreht sich in einem irren Tempo im Kreis, „Mama, ich bin ein Liebekraftwerk!“ – „ja?“ – und dann erklärt er mir Familienliebe: Die Liebe treibt seinen Motor an. Durch Umarmungen und Kuscheln tankt er. Wir alle, Papa, Mama, Kleinkindbruder und er müssen uns gegenseitig auftanken. Unsere Motoren funktionieren nur mit Liebe, die wir voneinander bekommen. Es gibt auch Akkus, für Zeiten, in denen man sich nicht immer umarmen kann. In der Schule zum Beispiel. Jetzt gerade ist er nur bei 5 % und muss mich dringend drücken.

Er ist ein Liebekraftwerk. Lass mich daran erinnern. Lass mich daran erinnern, wenn ich auf dem Sommerfest bin, ein Stück Kuchen in der Hand, und der Fotograf auf mich zu kommt: Ob der Junge zu mir gehöre. Ja, warum? Mh. Er schmeißt mit großen Hartschaum-Klötzen auf den Fotografen und die Kamera. Die Kamera ist ziemlich teuer. Warum tut er das? Mh. Ich regel´ das mal.. „Warum bewirfst Du den Fotografen mit den Klötzen hier?“. Es folgt eine Begründung. Ich erkläre dem Fotografen, dass er keinesfalls meinen Sohn fotografieren darf, dann sei er und seine Kamera in Sicherheit. Ich sage, dass es mir leid tut und es nicht mehr vorkommen soll. In meiner Stimme schwingt ein Unterton mit, der ihn vermuten lassen soll, ich hätte meinen Sohn angemessen streng angesprochen für sein Verhalten. Habe ich aber nicht. Er wirft mit Gegenständen auf den Mann und seine Kamera, weil er es absolut nicht ausstehen kann, fotografiert zu werden. Ungefragt. Von einem Fremden. Er sagt nicht: „Bitte fotografieren Sie mich nicht!“, weil er dass nicht kann. Er hat einen Mund, er kann laute produzieren, er hat einen unglaublich großen Wortschatz, er kann sprechen. Aber er kann nicht sozial kommunizieren und interagieren. Ja, mit Klötzen zu werfen ist falsch. Mit Klötzen zu werfen, wenn ein Fremder mit einer Kamera Fotos von einem schießt und man nicht im Stande ist, den Mund aufzumachen, ist immer noch falsch. Ich verstehe ihn trotzdem.

Lass mich daran erinnern, dass er ein Liebekraftwerk ist. Lass mich daran erinnern, wenn wir in der Bahn auf dem Heimweg von der Tagesmutter sitzen. Ich packe Weintrauben aus, um das Kleinkind zu bespaßen. Wenn das Kleinkind nicht bespaßt wird, watschelt es zu anderen Fahrgästen. Es lächelt sie an und sieht unglaublich süß dabei aus. So süß, dass die Fahrgäste Gummibärchen und Spielzeugautos ihrer Kinder aus den Taschen kramen und sie dem süßen Kleinkind schenken. Was keiner weiß: Das Kleinkind ist inoffizieller Meister im Weitwurf. Das Matchboxauto fliegt dem jungen Mann als Dankeschön volle Kanne gegen den Kopf. Ich schäme mich. Deshalb verteile ich Weintrauben an die Kinder. Damit sowas nicht noch mal passiert. „Ich habe einen Kaugummi im Mund, Mama!“ – „Dann spuck ihn aus, damit Du auch Trauben essen kannst!“ – „Da steht ein Mann vor dem Müll…“. Achso. Nun mischt sich eine Dame ein: „Na, dann geh doch einfach hin und sag, er soll beiseite gehen!“. Ich sehe das Großkind seine Unterlippe aufessen. Einfach hingehen. EINFACH!. Ich sage: „So einfach ist das manchmal nicht.“. Mein Kind ist schlau. Er läuft ein Abteil weiter. Während er weg ist, erkläre ich der Frau, was ich sonst eigentlich nie sage. Es gibt jedoch Tage, da fühle ich einen Rechtfertigungsdruck in mir. „Mein Sohn ist Autist, bevor der zu dem Mann etwas sagt, behält er bis übermorgen seinen Kaugummi im Mund.“. Die Dame ist plötzlich sehr verständnisvoll. Mein Kind kommt zurück, den Kaugummi hat er in den Müll im anderen Abteil geschmissen. „Man muss sich nur zu helfen wissen, toll!“ loben wir. Die Dame und ich.

Lass mich daran erinnern, dass er ein Liebekraftwerk ist. Lass mich daran erinnern, wenn wir im Zug zwischen Brüssel und London sind. Zwei Kinder und ich, wir haben uns zusammengefaltet auf zwei Sitze im Euro Star. Das Kleinkind verzaubert wieder die Mitfahrenden. „Oh, Sweetie! What´s your name?“ höre ich eine Dame ihn fragen. Das Kleinkind lächelt und schweigt. Das Großkind hängt sich über den Vordersitz. Es hängt ziemlich tief und distanzlos. Gerade will ich ihn ermahnen, sich ordentlich hinzusetzten, da flötet eine andere Dame „Oh, another boy! What´s your name?“. Mein Kind schweigt. So geht das einige Zeit. Meine Kinder belagern die Damen, doch diese bleiben höflich und fragen nach den Namen. Wirklich sehr nett, bei so viel Distanzlosigkeit so höflich zu bleiben. Irgendwann nennt eine Dame mein Großkind „Thomas“. Ich lache. „No, his name is…!“. Das war der Anfang vom Ende. Die folgende Stunde bis London sitzt ein beleidigt schimpfender Junge neben mir. Ich habe seinen Namen gesagt. Eine Verletzung der Privatsphäre, ähnlich schlimm wie der fotografierende Fremde. Meine Entschuldigungen prallen an ihm ab. Die Fahrt wird ungemütlich. Ein Glück spricht hier keiner Deutsch, so bleibt der Grund für die Wut geheim.

Lass mich daran erinnern, dass er ein Liebekraftwerk ist. Lass mich daran erinnern, wenn ein Autismusanfall im Drogeriemarkt neben einem gut befüllten Regal droht. Das ist nämlich so gekommen: Die neue Logopädin hat festgestellt, dass seine Fähigkeit, bei Erzählungen den Handlungsstrang zu erfassen, noch ein bisschen Übungsbedarf hat. Was recht unwichtig klingt, bekommt plötzlich eine unglaubliche Gewichtigkeit, wenn das Kind von der Schule kommt, etwas erzählt, und ich trotzdem nicht weiß, was in der Schule passiert ist. Das ist frustrierend für uns beide. Jedenfalls sollen wir eine Geschichte zu hause lesen, die er in der kommenden Woche der Logopädin wiedergibt. Das klingt einfach. Mein Kind ist aber nicht einfach. Es ist hochkompliziert. Er kann Prüfungs- und Testsituationen nicht gut verarbeiten. Er mag nicht über seine Schwächen reden. Er mag keine fiktiven Geschichten, sondern eher Sachliteratur. Wenn ich mir das so vor Augen führe: Ich glaube, die meisten Menschen sind hochkompliziert. Jedenfalls bin ich auch so. Ich rufe durch den Drogeriemarkt dem aufgebrachten Kind etwas zu. Das Regal bleibt stehen. Was die anderen denken, soll uns egal sein.

Lass mich daran erinnern, dass er ein Liebekraftwerk ist. Lass mich dran erinnern, wenn er mit zwei Händen voller Äste durch die Fußgängerzone marschiert und zwei Passanten mit dem längsten seiner Äste erwischt. Ich höre eine junge Frau „Vollidiot“ nuscheln. Ja, es war falsch. Aber er ist ein Kind. Ich als Mutter muss aufpassen, dass seine Astkonstruktionen fußgängerzonentauglich sind. Ein Vollidiot ist, wer nicht erkennt, wen er als Vollidiot beschimpfen muss. Ich baue die Konstruktion um und unsere Mitmenschen sind sicher. Auf dem halben Weg beginnt eine große Trauer. „Wir haben Hemling verloren!“ – „Wer ist Hemling?“ – „Hemling war mein bester Ast!“.

4 Gedanken zu “Das Liebekraftwerk

  1. unserlebenmitemily 16. August 2016 / 17:43

    die gleichen Probleme hat unsere Maus auch. Wie alt ist Dein Grosser? Unsere Maus ist gerade 8 geworden, und mittlerweile verstehe ich ihre Sprache schon ein bisschen besser. Aber wenn nicht, dann gibt es auch Zwergenterror. Ist gar nicht so einfach ;).
    Alles Gute,
    Isabelle

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    • Frau Taugewas 17. August 2016 / 22:52

      Hallo Isabelle,

      mein Großer ist acht Jahre alt, nach dem Sommer kommt er in die dritte Klasse. Oft verstehe ich ihn, manchmal nicht. Dafür habe ich meinen Mann, der kann dolmetschen. :D
      Liebe Grüße :)

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  2. Natalie 17. August 2016 / 22:13

    Ein Liebekraftwerk – oh wie wunderbar!
    Dein kleiner Poet.
    Und Respekt,dass du die Nerven hast mit deinen Kindern nach London zu fahren, wo es geht drücke ich mich vor solchen Aktionen zurzeit, mag die Dauerenergie meines heißgeliebten Minikraftwerks kaum noch jemanden zumuten …
    Obwohl ich auch immer wieder auf so nette verständnisvolle Menschen treffe.
    Liebe Gruüße
    Natalie

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    • Frau Taugewas 17. August 2016 / 22:57

      Liebe Natalie,

      ich hatte zum Glück nur die Fahrt mit den Kindern alleine – in England selber begleitete uns mein Bruder (der hier ab und an in den Kommentaren unter dem höchst einfallsreichen Namen „Bruder“ postet :-D ) und der hat höchst engagiert sowohl Kindertrageesel als auch Kinderbespaßer gespielt und gekocht, Busfahrpläne gelesen, Taschen geschleppt und geduldig alles wichtige über Erderuptionen im National History Museum erklärt – es war fast wie Urlaub ;-)
      Alleine traue ich mich mit den beiden Kraftwerken auch besser nur in den nächsten Park..

      Liebe Grüße :)

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