Mit Helm und Hilfe

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An der Garderobe im Kindergarten ziehe ich dem Kleinkind Jacke, Schuhe und Helm an. Wir wollen zum Musikkurs, immer dienstags. Daneben sitzt ein Junge mit seiner Mama. Was ich denn da auf dem Kopf habe, fragt er. Seine Mutter erklärt ihm, dass es ein Helm sei und sie stellt fest, dass es eigentlich gut ist, auch als Mama einen Radhelm zu tragen. Nicht nur als Kind. Ach, höre ich mich sagen, ich bin mal übel zwischen die S-Bahn-Schienen gekommen mit dem Rad. Ich trug einen Helm. Seitdem weiß ich, wie wichtig der ist.

Kurz erinnere ich mich an diesen kleinen Unfall. Er ist bestimmt schon neun Jahre her und bis auf ein paar blaue Flecken ist nichts weiter passiert. Seitdem ist mir immer mulmig, wenn ich neben in die Straße eingelassenen S-Bahn-Schienen fahre. Dabei fahre ich all die Jahre unfallfrei. Ich bin auch besonders vorsichtig seit meinem kleinen Unfall damals. So viele, hunderte von Kilometer bin ich mit und ohne Großkind gefahren und immer ging es gut. Mein Rad wurde vor zwei Wochen erst generalüberholt von der Radwerkstatt meines Vertrauens.

Tschüss, sage ich und hoffe, dass ich mit meinem Helm neben der unbehelmten Mama nicht oberlehrerhaft erschien. Wir schwingen uns aufs Rad, das Kleinkind jammert wie immer.. Ein Stück des Gurtes im Mund beruhigt und dämmt ein bisschen sein Geschrei. Ich gebe nicht auf und probiere es weiterhin mit dem Rad und dem Kind. Die Strecke ist ja auch kurz, nur 15 Minuten.

Radfahren entspannt. Wind bläst mir ins Gesicht. Der blöde Augenarzttermin geht mir noch nach…OP oder nicht OP…warum muss ich das entscheiden?…warum diese Verantwortung?..und immer dieses elende Brillenabsetzen…wird es mit der weichen Kontaktlinse besser werden? Medikamente gegen die Unruhe hat sie empfohlen…hinten auf dem Sitz quäkt das Kind…beim SPZ muss ich auch noch anrufen…oder wollten die nicht anrufen?..wegen dieser elektrophysiologischen Untersuchungen, irgendwelche sensorisch evozierte Potentiale…wenn ich verstünde, was das ist.. Schlafmittel soll er dafür bekommen…Ich will das noch googlen…jetzt eine Ampel, kurzer Blick auf die Uhr, noch 10 Minuten, wir werden pünktlich kommen. Grün. Weiterfahren, weiterdenken. Die Förderschule Sprache war richtig gut…jedenfalls auf den ersten Blick beim Infotag….aber so weit weg…ich will sowieso noch diese andere Schule kontaktieren….wie hieß sie noch gleich?…achja…Winterhandschuhe für ihn muss ich noch kaufen…Nicht vergessen…und wann war gleich noch mal die Anmeldefrist für diese eine Prüfung?….jetzt links abbiegen….bloß nicht in die Straßenbahnschienen kommen…ach, quatsch, jedes Mal die selbe Angst, voll unbegründet, Frau Taugewas!

Wie in Zeitlupe bremst das Rad ab. Lass es nicht geschehen! Das Kind! Fall so, dass es nicht das Kind trifft! Das Vorderrad verbiegt sich, wir wanken nach rechts. Nach rechts! Gehwegseite! Dann ein Rums. Mitten in einen mit Rädern vollgestopften Fahhradständer. Das Rad auf der Straße. Mein linkes Knie schmerzt. Hinter mir Geschrei. Das Kind schreit! Dauert es echt solche Ewigkeiten, endlich aufzustehen? Bestimmt fühlt sich das nur so an. Nun das Rad aufsammeln. Warum zittern meine Arme so doof? Da kommt ein Mann. Ob alles okay ist? Erst mal das Rad aufsammeln. Das Kind im Sitz beruhigen. Volle Kanne auf die Fahrräder ist es gefallen. Hat das nun abgedämpft oder es schlimmer gemacht? Die Straße bemerke ich erst jetzt. Die Autos fahren weiter. Alles okay, danke für Ihre Hilfe, ich beruhige mal mein Kind, es geht schon. – Ja? Okay, ich würde ja länger…aber ich habe jetzt einen Arzttermin…Ja, ist okay, danke nochmal! Ach, er blutet aus dem Mund! Schreck! Rufen sie den RTW! – Ja? Also, vielleicht ist es nur eine winzige Wunde… – RTW, besser ist besser! – vielleicht ist hier auch ein Arzt? – Kommen Sie! Kommen Sie mit, ich muss da hinten zum Zahnarzt, wir gehen mit dem Kind da jetzt hin.

Wir schieben das Rad, er eilt in die Praxis. Die Ärztin kommt raus und führt mich nach oben. 16:15 Uhr, der Musikkurs hat längst angefangen. Zittrig fülle ich alle Fragebögen aus. Das Kleinkind nimmt die Praxis auseinander. Dann schreit er und wir sehen alle: Eine winzige Wunde auf der Zunge. Puh! Die Ärztin klärt mich über alle Eventualitäten auf und wir können gehen. Ich möchte mich noch bei dem Mann bedanken, doch er ist weg. Bestimmt im Behandlungsraum.

Bis zum Bahnhof schiebe ich mein Rad, dort kette ich es an. Verbogenes Vorderrad und Kette raus. Morgen hole ich es ab. Das Kind hinten kann wieder albern sein. Ich auch. Was bleibt ist eine Prellung am Knie, eine Wunde im Mund und die Angst vor Straßenbahnschienen. Das geht hoffentlich alles weg. Dem Helm sei Dank! Und dem Mann, der uns so schnell geholfen hat.

Der Morgen danach. Wir wollen mit dem Bus zum Kindergarten. In der Nacht noch die Gedanken an zerquetschte Menschen unter Straßenbahnen…solls ja geben, wenn man in die Schienen fährt… Jetzt aber schnell zum Bus, Schlüssel und Handy in die Tasche, zum Laptop gehen und ihn ausschalten. In dem Moment knallt das Kind aus dem Stand gegen die Glastür der Altbauwohnung. Wegen genau solcher Gleichgewichtsstörungen also die elektrophysiologischen Untersuchungen… Blut quillt aus dem Mund. Geschrei. Das Lippenbändchen ist gerissen. Es muss nicht immer die Bahnschiene sein. Ich weiß ja jetzt Bescheid mit solchen Mundwunden, war ja gestern erst deswegen beim Zahnarzt.

2 Gedanken zu “Mit Helm und Hilfe

  1. Dani 17. November 2016 / 22:46

    Auwei, manche Dinge braucht doch echt kein Mensch… Gut, dasss nicht mehr passiert ist!
    Ich fahr übrigens auch immer mit Helm seit ein Freund einen Fahrradunfall annähernd unverletzt überstanden hat, der Notarzt aber meinte, dass das ohne Helm nicht so glimpflich ausgegangen wäre…mit dem Kopf auf dem Randstein.

    Viele Grüße
    Dani

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  2. Natalie 20. November 2016 / 0:58

    Oh nein, was für ein Schreck für euch beiden.
    Ich zitter auch immer so fürchterlich, wenn was war, meistens fange ich obendrein an zu heulen.
    Und tröstlich, wenn man Hilfe hat.

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