Ein Blick auf die Insel

Wie ist denn das mit ´nem autistischen Mann? Ist das nicht so, dass die auch Probleme mit Nähe haben, die Autisten? Und das dann mit dem Kleinen.. Wie ist´n das so?

Vielleicht. Ich weiß es nicht. Längst bin ich schon so lange abseits der Normalität, dass ich die ganze Sache nicht objektiv einschätzen kann.

Guckt doch mit einem Fernrohr auf unsere Insel.

Da sind Decken, unter denen sie sich begraben. Einnisten. „Ich bin Kalk“ sagt der eine und wickelt sich noch enger ein. Manchmal nistet er auch als Einsiedlerkrebs in einem Kopfkissenbezug.

Wie das Zirpen der Grillen, ununterbrochen, hört man den einen lautieren und schreien. „Mamea. Mea. Meeeaaaaaa. Mama. Da. Da. Da. Da. Da. Da. Da. Da. Da. Maaaaammmeeeaaaa. Da. Da. Da. Da. Da. Meeeeaaa. Äääääähhhhhh. Paaaaaaaaapaaaaaaa. Ääähhhhh. Bbbrrrrrrrr. Meeeeeaaaaaa.“

Es ist schwierig, ein natürliches Habitat jeder der hier lebenden Arten herzustellen.

Ja, der eine braucht es ruhig. Er sagt, er sei ein Indikatortierchen. Wie die Larven der Köcherfliege. Sie lebt nur in Gewässern, in denen das Wasser klar und sauber ist. Findet man viele ihrer Art in einem Flusslauf, so weiß man, dass das Wasser dort rein ist. Es ist nützlich, das zu wissen, falls man mal Durst bekommt und in der Nähe eines Flusses ist.

Einer schreit, weil er nicht sprechen kann. Er ist nicht von hier, wurde angeschwemmt und breitet sich nun auf dieser Insel aus. Vieles ist nicht gerecht. Anderswo sagt man „Dieser Ort ist nicht barrierefrei. Er ist nicht behindertengerecht“. Hier ist es auch nicht gerecht. Er prüft das. Alles, was seiner Testung nicht standhält, geht kaputt. Die Regale sind deshalb erst ab einem Meter Höhe gefüllt. In die leeren Regalfächer legen sich Kalk und Grille zum Ruhen.

Der dritte mag keine Musik, aber liebt alles regelmäßige. Murmeln, die ununterbrochen auf dem Holzboden kullern. Immer und immer und immer wieder in die Ecke rollen und hören und gucken, wie sie wieder zurückkullern. Kkrrrrrrrrrrrrrrr. Immer und immer wieder den Flummi auf den Boden dotzen und das Blinklicht bewundern. Immer und immer wieder das Piepen der Alarmanlage, die er mit dem Elektrobaukasten gebaut hat.

Am besten geht das in Einzeldosen mit den seltenen Arten hier. Es ist wie mit Essen. Hummus und Gurke ist lecker. Schokokekse sind auch lecker. Und Kartoffelsuppe. Kartoffelsuppe mit einer Einlage aus mit Hummus gefüllten Schokokeksen ist aber ungenießbar. So ist das hier auch.

Schau genau mit deinem Fernrohr. Richte den Blick nur auf eine einzige Sache. Dann erkennst Du die Botschaft. Der, der schreit und wirft und tanzt und wirrt. Der gebärdet ungeschickt mit Armen und Händen „werfen“. Hör genau: „Bäje. Bääje. Bäääjjjeee.“ Das heißt „Kamelle“ oder auch „Bälle“. Der tut das, wenn ein anderer von Fußball erzählt. Dieses Wesen bekommt viel mit. Es bedarf unsere Aufmerksamkeit und Konzentration, das zu erkennen. Am besten in einer Einzelsituation mit ungeteilter Aufmerksamkeit. Am besten, wenn wir das Fernrohr auf ihn richten und alles andere ausblenden.

Wenn alle durcheinander reden und werfen, dann ist das nicht artgerecht. Der Gleichmäßige erträgt das nicht und rennt weinend aus der Küche. Wo ist er bloß? Im Bad? Dort wollte er mal aus dem Fenster springen. Im Bett? Kein Einsiedlerkrebs zu finden. Kein Kalk. Im Schrank? Im Pappkarton, in den er gerne Löcher bohrt? Nein. Hol´ das Fernrohr raus. Er steht auf dem Balkon und streichelt Pflanzen. Als Selbstberuhigung. Die kommen mir am vertrausten vor“.

Schau mit dem Fernrohr. Eine zersplitterte Kontaktlinse im Auge um sechs Uhr morgens. Erdnussallergie-Notfall-Spritze im Badezimmerschrank. Einer, der Handcreme aus der Tube lutscht und einer, der schreiend vor Creme weg rennt oder gar aus dem Fenster springen will deswegen. „Vielleicht geht meine Neuteramitis ja bald weg“.

Die Kinder passen nicht zu mir und ich nicht zu ihnen. Ich bin ein anderes Puzzlestück“ erklärt der die Pflanzen streichelt.

Wie ist´n das so hier bei Euch? So ist das hier mit uns. Nun leg´ das Fernrohr weg. Mit der Lupe findet man Köcherfliegen bestimmt auch. Aber nur in klaren Gewässern.

3 Gedanken zu “Ein Blick auf die Insel

  1. Natalie 19. März 2017 / 0:57

    Ein sehr berührender Text, hab‘ ihn eben zum zweiten Mal gelesen.
    Vor meinem inneren Auge entstehen ganze Archipele.Verschiedenartige Inseln bevölkert von seltenen Arten, endemischen Arten wie sie auf Inseln halt entstehen.
    Unserer Insel ist ja durchaus für den Tourismus freigegeben, aber man erlebt doch immer wieder Reisende, die glücklich zu sein scheinen dieses einzigartiges Ökosystem wieder verlassen zu dürfen, aufs Festland, wo es zugeht wie erwartet.
    Das Kaputtmacheräffchen dieses Biotops erklimmt mittlerweile jedes Regal bis zu jeder Höhe – da hilft nur noch Türen verschließen (und Schlüssel hochhängen), wie gesagt auf jeder Insel einzigartige Arten, auf jeder ein anderes (Über-)lebenkonzept, nicht austauschbar.
    Unendliche Vielfalt.
    Aber dein Text stimmt auch traurig, es klingt raus (vielleicht stimmt das gar nicht und es hört ich nur so an), dass auf eurer Insel verdammt viel an dir hängenbleibt, vielleicht weil auch so viele trübe Gewässer zu durchschwimmen sind? Und dann ein Kind, das aus dem Fenster springen will.Puh. …
    Aber wie wunderbar, dass dein Zwerg sich langsam Worte aneignet.
    Solidarische Grüße von Insel zu Insel.
    Natalie

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    • Frau Taugewas 26. März 2017 / 2:12

      Liebe Natalie,
      fast hätte ich nicht mehr geglaubt, aus dem Unibücherstapel jemals wieder herausgekrochen zu kommen, doch das Semesterende naht und ich komme tatsächlich zum Antworten :)
      ….ja, ich kenne es, wenn man Reisende, Touristen, wieder verabschiedet und im Gefühl hat, dass diese doch sehr froh sind, wieder das berechenbare Festland unter den Füßen zu haben. Ich selber gehöre wohl manchmal selber zu diesen Leuten, dabei hab ich ja hier eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung ;) Ich bin nur froh, dass hier noch nicht in die Höhe geklettert wird.. Nur das Babybett wird zunehmend eine Gefahr, wir warten auf das Pflegebett mit hohen Gittern..
      Ja, in trüben Gewässern schiebe ich hier manchmal mit dem Kescher alles weiter, so gut es geht.. Oder schütte klares Wasser drauf.. Wie man´s nimmt.. Es ist mal so mal so. Ich habe das große Glück, mit einem sehr reflektierten und klaren Menschen zusammen zu sein und das größte Glück ist es, dass dieser – nur dieser – Mensch die selben Antennen hat wie der Große. Deshalb fliegen dann auch nur Cremetöpfchen aus dem Fenster und keine Kinder. Deshalb gehen nur Türen kaputt und keine Seelen. Weil da einer ist, der einfühlsam und auf eine einzigartige Art vermittelt und besänftigt.
      Heute hat der Kleine „lecker“ gebärdet. Einfach so. Ohne, dass ich vorher selber gebärdet habe. Das war wunderbar.
      Sonnige Grüße, hier ist Ebbe und das ist gut :)

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  2. Natalie 29. März 2017 / 22:41

    Oh ja, das klingt wunderbar, dass dein Großer von seinem Vater so gut verstanden wird.
    Das Kinderbett des Kleinen habe ich schon lange aussortiert, er konnte mit 14 Monaten noch nicht krabbeln geschweige denn laufen, aber aufs Bettgitter kraxeln und sich dann fallen lassen.
    Er kann auch kaum mit dem Löffel essen, aber Türen aufschließen, Gurte öffnen.. mein Ausbrecherkönig.
    Er schläft auf einer Matratze auf dem Fußboden in meinen Armen (festgehalten) ein, alles andere klappt nicht.
    Ich sag ja, jede Insel einzigartig.
    Natalie

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