Kein Strohhalm, sondern ein ganzes Rohr

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Letztens habe ich ausgeatmet. War nicht so leicht. Mit einer Ungewissheit zu leben, will gelernt sein. Lernen klappt nicht immer. Also machte ich mich, nach einigen Wochen, in denen ich versuchte, mit der Ungewissheit zu leben und aus- und einzuatmen, auf die Suche nach irgendetwas, etwas, wie ein Strohhalm, eine Richtung, in die noch weitergedacht werden kann. Und bat den Arzt der Uniklinik, der unser Mondkind auf den Kopf gestellt hat, um das MRT-Bild vom Kopf, nur, um es in den dicken Ordner zu heften. Und vielleicht, um es einem weiteren Radiologen zu zeigen. Nur so als Zweitmeinung. In Gedanken noch nicht weiter. Aber hypothetisch alles möglich. Frau Taugewas, unter dem rechten Arm das Kind, unter dem linken der Ordner, alle Spezialisten aufsuchend. Doch diesen Gedanken noch nicht weitergedacht. „Wir leben einfach im hier und jetzt und gucken, was da noch kommt!“. Schön für die, die das auch wirklich so meinen, wenn sie es sagen. Würden sie es auch dann noch sagen und meinen, wenn es ihr eigener Körper mit merkwürdigen, nicht einzuordnenden Anormalien wäre? Oder der ihres Kindes? Solange ich suchen kann, suche ich. Nennt es ein Nicht-zu-Ruhe-Kommen, ich nenne es einfach nur suchen.

Jedenfalls schrieb ich diese Mail an den Arzt. Und er antwortete nicht auf meine Bitte. Stattdessen schrieb er zeitnah Worte, dicker als ein Strohhalm, vielleicht eher ein Rohr. Er sei sich ziemlich sicher, vor zwei Tagen gab es einen Fallbericht über ein bekanntes Gen. Er glaube, er habe nun eine Diagnose. Schrieb er. Und vor einigen Wochen zuckte er noch mit den Schultern und tröstete, er habe einer Familie letztens nach zehn Jahren eine Diagnose geben können. Nun weniger als zwei Monate danach nun dieses Rohr. Ich atme ein. Halte die Luft an bis zum Termin in einigen Wochen. Diagnosefindung ist Atmen in Zeitlupe. Vielleicht wie Schildkröten und man wird dadurch älter.

Der nächste Tag. Im Frühförderzentrum untersuchen sie das Mondkind, um für ein weiteres Jahr den Förderbedarf festzustellen. Er spricht noch nicht richtig. Dafür kann er Spieltelefone schmeißen. Und hat das schönste Lachen. Danach sitze ich in der Uni, den Kopf an das Bücherregal gelehnt, der Dozent vorne spricht richtig, es ist stickig und sauerstoffarm. Wenn nicht durch die Diagnosesuche, so wird man hier zur Schildkröte. Dann eine Fahrt zur benachbarten Stadt ins Kontaktlinsenlabor. Das Kind windet sich unter unseren Händen. „Nur noch ein Tropfen hier ins Auge. Schau, da ist der Vogel Ihhkeeeriiii.“ Das Augeninnendruckmessgerät klebt vor seinen Augen, er schreit. Die Gläser zum Messen der Stärke werden zum Wurfgeschoss. Die Brille ist sowieso gerade wieder kaputt.. „Immerhin habe ich einen Anhaltswert. Vielleicht nicht auf den Dioptrie genau, aber in etwa passt die Linse noch.“ meint die Frau aus dem Labor. Bis in drei Monaten. Auf der Rückfahrt in der Bahn pult das Kind in der Kette eines Klapprades. Die Hände ganz ölverschmiert. Der Besitzer lässt für ihn die Klingel schellen. Das Mondkind jauchzt. Ich lade es zuhause ab, damit es sich bei den Inselmenschen Nudeln und Trauben reinstopfen kann. Bis es schon abends etwas dämmert sitze ich in der Uni. Draußen regnet es. Das Fenster ist offen, ich höre es prasseln. Es ist immerhin sauerstoffreich hier. Der Beamer schaltet sich ab. Die Dozentin läuft zwischen den Reihen. Unter der Bank lese ich weltliche Literatur, keine Wissenschaft. Wir warten, bis der Beamer wieder hoch fährt. Warten kann ich gut. Besonders, wenn frische Luft zum Atmen ist. Und wenn dieses Rohr noch da ist. Dann geht das. Hoffentlich bleibt es.

3 Gedanken zu “Kein Strohhalm, sondern ein ganzes Rohr

  1. Kerstin 17. Juni 2016 / 10:40

    Liebe Frau Taugewas ! Ich wünsche Dir/Euch so sehr,dass das Rohr ein Rohr bleibt und wie furchtbar, dass man auch nach so einer Nachricht tatsächlich ein paar Wochen warten muss bis man einen Termin hat. Ich frage mich da manchmal , was in den Köpfen von Ärzten /Ämtern etc vorgeht, dass sie nie das Schicksal hinter dem Ganzen sehen und dann begreifen können, dass diese Wartezeit eben kein einfaches Termineintragen im Kalender ist, sondern eine Qual.
    Ich wünsche dir , dass die Zeit schnell vergeht und zwischenzeitlich viel Sauerstoff.
    LG Kerstin

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    • Frau Taugewas 18. Juni 2016 / 22:49

      Liebe Kerstin,

      danke für Deine lieben Worte!
      Ich hatte tatsächlich den Gedanken, den Arzt via Mail zu löchern,
      um die Wartezeit rumzubekommen, aber ich übe mich ein weiteres Mal in Geduld.
      Es sind ja nur noch knapp fünf Wochen..

      Liebe Grüße :)

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  2. Natalie 19. Juni 2016 / 23:20

    Liebe Frau Taugewas,
    Das freut mich für Euch sehr!
    Heißt eine Diagnose doch auch eventuell von den Erfahrungen anderer mit der selben Diagnose zu profitieren oder sich wenigstens austauschen zu können, über das was da noch kommen mag.
    Ich glaube nach zwei Jahren gibt sich noch kaum jemand die Suche auf, nach vielen Jahren ohne Diagnose gewöhnt man sich wahrscheinlich.
    Ganz sicher sind die Ursachen für die Besonderheiten meines Mittelkindes auch nicht, nach der Genetik wurde z.B. nie geschaut. Aber es gibt diverse Spuren und das Wahrscheinlichste ist, dass mehrere schlechte Umstände vor und nach der Geburt zusammengewirkt haben.
    Inzwischen interessiert es mich tatsächlich nicht mehr.
    Aber fünf Wochen warten — das ist wirklich hart, denn der Gedanke an so einen Termin läuft — zumindest bei mir ist das immer so — als Hintergrundgeräusch ständig mit und wirkt sich subtil störend auf alle anderen Gedankentätigkeiten aus.
    Aber du hast natürlich recht, auch diese Wochen gehen vorbei und dannn hoffentlich: Freier atmen, Atem für die nächsten Schritte haben.
    Ach, das nächste halbe Jahr Frühförderung hat mein Zwerg auch gerade gebucht :)
    Alles Liebe
    Natalie

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